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Victor nickte. Richard sah zu, wie der Schmied seinen Umhang aufnahm und ihn sich um die Schultern warf, ehe er in die Wurzeln und festsitzenden Schlingpflanzen griff, um über den Felsen oberhalb des Unterschlupfes bis zu jener Stelle hinaufzuklettern, von wo aus er über sie wachen würde. Nicci legte Richard eine Hand an die Stirn, um zu prüfen, ob er fieberte. »Du brauchst dringend Ruhe und wirst heute Nacht keine Wache übernehmen. Wir werden uns zu dritt abwechseln.« Er wollte schon widersprechen, wusste aber, dass sie Recht hatte. Es war eine Auseinandersetzung, auf die er sich am besten gar nicht erst einließ, und so erklärte er sich stattdessen mit einem Nicken einverstanden. Cara, die offenkundig bereit gewesen war, sich im Falle eines Widerspruchs sofort auf Niccis Seite zu schlagen, kehrte der kleinen Lücke in den Zweigen, durch die sie die beiden beobachtet hatte, wieder den Rücken zu. Unterdessen war das Schnarren, das in der aufkommenden Dunkelheit von allen Seiten zu kommen schien, zu einem schrillen Zirpen angeschwollen. Jetzt, da die mühevollen Arbeiten zur Errichtung des Unterschlupfes abgeschlossen waren, war das Getöse kaum noch zu überhören – der ganze Wald schien von hektischer Betriebsamkeit nur so zu wimmeln. Schließlich bemerkte es auch Nicci und hielt inne, um sich umzusehen. Ihre Stirn legte sich in Falten. »Was ist das eigentlich für ein Lärm?«

Richard pflückte eine leere Haut vom Stamm eines Baumes. Überall im ganzen Wald waren die Stämme mit den blassbraunen, daumengroßen Hülsen bedeckt.

»Zikaden.« Richard schmunzelte, als er die zarte Haut des Tieres, das einst darin gelebt hatte, in seine Handfläche rollen ließ. »Das ist alles, was übrig bleibt, nachdem sie sich gehäutet haben.«

Nicci warf einen flüchtigen Blick auf die leere Hülse in seiner Hand, dann ließ sie ihre Augen über ein paar andere schweifen, die ringsum an den Bäumen hafteten. »Auch wenn ich den größten Teil meines Lebens in Ortschaften und Städten sowie in geschlossenen Räumen verbracht habe, seit dem Verlassen des Palasts der Propheten war ich auch viel draußen in der freien Natur. Diese Insekten kommen bestimmt ausschließlich in diesen Wäldern vor, ich kann mich nämlich nicht erinnern, sie jemals zuvor gesehen oder gehört zu haben.«

»Das wäre auch schlecht möglich gewesen. Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war ich noch ein kleiner Junge. Diese Zikadenart kommt alle siebzehn Jahre aus dem Boden hervor, und dies ist der erste Tag, an dem sie zu schlüpfen beginnen. Sie werden nur wenige Wochen zu sehen sein, nämlich während sie sich paaren und ihre Eier ablegen, danach werden wir sie für die nächsten siebzehn Jahre nicht mehr zu Gesicht bekommen.«

»Tatsächlich?« Sofort erschien Caras Kopf wieder in der Lücke. »Alle siebzehn Jahre?« Sie ließ sich das einen Moment durch den Kopf gehen, dann schaute sie hoch zu Richard. »Trotzdem sollten sie uns besser nicht länger wach halten.«

»Wegen ihrer ungeheuren Zahl erzeugen sie ein wahrhaft unvergessliches Geräusch. Wenn unzählige dieser Zikaden gleichzeitig zirpen, so wie jetzt, kann man das harmonische An- und Abschwellen ihres Gesangs manchmal wie eine Welle durch den Wald gehen hören. Zunächst erscheint einem ihr Zirpen in der nächtlichen Stille ohrenbetäubend, aber ob Ihr es glaubt oder nicht, nach einer Weile hat es tatsächlich sogar eine einschläfernde Wirkung.«

In der zufriedenen Gewissheit, dass die Insekten ihren Schützling nicht wach halten würden, verschwand Cara wieder im Unterschlupf.

Richard erinnerte sich, wie erstaunt er gewesen war, als Zedd ihm bei einem Spaziergang durch den Wald die frisch geschlüpften Kreaturen gezeigt und ihm alles über ihren siebzehnjährigen Lebenszyklus erzählt hatte. Jetzt überkam ihn eine Woge tiefer Traurigkeit, denn diese unschuldige Zeit seines Lebens war für immer vorbei. Als kleiner Junge war ihm das Schlüpfen der Zikaden so ziemlich als das erstaunlichste Phänomen erschienen, das er sich hatte vorstellen können, und siebzehn Jahre bis zu ihrer Rückkehr zu warten erschien ihm als die schwerste Aufgabe, die er jemals würde bewältigen müssen. Und nun waren sie tatsächlich zurückgekehrt – und er war ein erwachsener Mann. Er warf die leere Hülse fort.

Richard legte seinen durchnässten Umhang ab, kroch hinter Nicci nach drinnen und zog die Zweige zusammen, um die Eingangsöffnung ihres behaglichen Unterschlupfes zu verschließen. Die dichten Zweige dämpften den schrillen Gesang der Zikaden etwas, und kurz darauf ließ ihn das unablässige Gesumm schläfrig werden. Zu seiner Freude stellte er fest, dass die Balsamtannenzweige den Regen wirkungsvoll abhielten, sodass es in dem höhlenartigen Unterschlupf, wenn schon nicht warm, so doch wenigstens trocken blieb. Sie hatten ein Bett aus Zweigen über den nackten Boden gelegt, um eine vergleichsweise weiche und trockene Fläche zu erhalten, auf der es sich schlafen ließ.

Richard sehnte sich nach einem heißen Bad und hoffte, dass wenigstens Kahlan warm und trocken und unverletzt war. Müde und schläfrig, wie er war, fasste er dennoch einen Entschluss: Noch vor dem Einschlafen würde er in Erfahrung bringen, was Nicci über die Todesursache von Victors Männern wusste.

8

Richard löste die Lederriemen unter seinem Bündel, rollte sein Bettzeug auseinander und breitete es auf dem schmalen Streifen aus, den die beiden anderen für ihn freigelassen hatten. »Nicci, Ihr habt vorhin von einem Blutrausch gesprochen, drüben an der Stelle, wo die Männer getötet wurden.«

Er lehnte sich gegen die Felswand unter dem Überhang. »Was habt Ihr damit eigentlich gemeint?«

Auf ihrem Bettzeug stemmte sich Nicci rechts neben ihm in eine sitzende Haltung. »Es ist doch ziemlich offensichtlich, dass das, was wir dort gesehen haben, kein simpler Akt des Tötens war.«

Vermutlich hatte sie damit nicht ganz Unrecht. Noch nie war er Zeuge eines dermaßen von Raserei geprägten Gemetzels geworden. Er war sich allerdings einigermaßen sicher, dass Nicci erheblich mehr darüber wusste. Cara kauerte sich links neben ihn. »Ich hab’s Euch ja gesagt«, sagte sie zu Nicci. »Ich glaube, er weiß es nicht.«

Richard bedachte erst die Mord-Sith, dann die Hexenmeisterin mit einem misstrauischen Seitenblick. »Was weiß ich nicht?«

Nicci fuhr sich mit den Fingern durch das nasse Haar und strich sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht. Sie schien ein wenig verwirrt. »Hast du nicht gesagt, du hättest den Brief erhalten, den ich dir geschickt habe?«

»Hab ich.« Das lag schon eine Weile zurück. Er versuchte, sich durch den Dunst aus Mattigkeit und Sorge zu erinnern, was in Niccis Brief gestanden hatte – irgendetwas darüber, dass Jagang im Begriff sei, Menschen in Waffen zu verwandeln. »Euer Brief war mir bei der Untersuchung der damaligen Vorfälle eine wertvolle Hilfe. Ich wusste Eure Warnung vor Jagangs finstereren Machenschaften durchaus zu würdigen. Nicholas der Schleifer war in der Tat ein äußerst übler Zeitgenosse.«

»Nicholas.« Nicci spie den Namen förmlich aus. »Der ist nichts weiter als ein Floh im Pelz des Wolfes.«

Wenn Nicholas der Floh war, dann hoffte Richard, niemals dem Wolf über den Weg zu laufen. Nicholas der Schleifer war ein Zauberer gewesen, den die Schwestern der Finsternis dahin gehend verwandelt hatten, dass er den Menschen in allen Eigenschaften weit überlegen war. Diese Zauberei am Menschen galt nicht nur als längst vergessene Kunst, sondern als schlechterdings unmöglich, nicht zuletzt, weil ein solch ruchloses Tun die Anwendung nicht nur additiver, sondern auch subtraktiver Magie erforderte. Einige wenige Auserwählte hatten diese zwar beherrschen gelernt, gleichwohl war bis zu Richards Geburt seit tausenden von Jahren niemand mehr mit der echten Gabe subtraktiver Magie geboren worden. Aber dann gab es noch jene, denen es, obwohl selbst nicht mit dieser Seite der Gabe geboren, gelungen war, sich den Gebrauch subtraktiver Magie anzueignen, und zu dieser Gruppe von Personen gehörte Darken Rahl. Es hieß, er habe die Seelen unschuldiger Kinder im Tausch gegen zweifelhafte Privilegien an den Hüter der Unterwelt verschachert – unter anderem für die Kenntnisse bei der Anwendung subtraktiver Magie. Richard vermutete, dass sich womöglich auch die ersten Schwestern der Finsternis mithilfe schauriger Versprechungen an den Hüter das für die Nutzung subtraktiver Magie erforderliche Wissen hatten verschaffen wollen, nur um es anschließend stillschweigend an die Schar ihrer heimlichen Anhänger weiterzugeben. Nach dem Fall des Palasts der Propheten hatte Jagang eine Vielzahl von Schwestern sowohl des Lichts als auch der Finsternis gefangen genommen, deren Zahl jedoch mittlerweile wieder im Schwinden begriffen war. Soweit Richard dies hatte in Erfahrung bringen können, befähigte das Talent des Traumwandlers ihn dazu, bis in die tiefsten Schichten des menschlichen Verstandes vorzudringen und auf diese Weise die absolute Kontrolle über den Betreffenden zu erlangen. Kein noch so intimer Gedanke, keine noch so intime Handlung blieb ihm verborgen.