Einem alten Zauber, einst von einem Vorfahren Richards geschaffen, um sein Volk vor den Traumwandlern seiner Zeit zu schützen, war es zu verdanken, dass jeder davor sicher war, der dem jeweiligen Lord Rahl die Treue schwor. Diese Bande waren Richard zusammen mit seiner Gabe vererbt worden, sodass sie seine treuen Untergebenen nun, da wiederum ein Traumwandler in die Welt hineingeboren war, davor bewahrte, dass sich Jagang heimlich in ihre Gedanken schlich und sie zu seinen willenlosen Sklaven machte. Obschon sämtliche Einwohner D’Haras die förmliche Andacht an ihren Lord Rahl sprachen, konnte der von diesen Banden gewährte Schutz tatsächlich nur durch die innere Überzeugung der ihm über die Bande verbundene Person aufgerufen werden – mit anderen Worten, die Schwestern in Jagangs Gewalt hätten Richard nur aufrichtig ihre Treue schwören müssen –, doch leider hatten die meisten eine so entsetzliche Angst vor Jagang, dass sie diese Chance, ihre Freiheit zu erlangen, mehr als einmal ausgeschlagen hatten. Nicht wenige gingen sogar so weit, diese Ketten geistiger Sklaverei als schützenden Panzer zu betrachten. Einst hatte auch Nicci der Glaubensgemeinschaft der Imperialen Ordnung als Sklavin gedient – zunächst bei den Schwestern des Lichts, anschließend bei den Schwestern der Finsternis und schließlich Jagang selbst. Das war vorbei; stattdessen hatte sie sich Richards Liebe zum Leben zu Eigen gemacht. Dank ihrer festen Treue zu ihm und allem, an das er glaubte, hatte sie sich aus der Gewalt des Traumwandlers befreit, vor allem aber hatte sie sich dadurch von dem Joch der Sklaverei befreit, das sie zeit ihres Lebens mit sich herumgetragen hatte. Ihr Leben gehörte jetzt wieder ihr allein.
»Ganz habe ich den Brief nicht gelesen«, gestand Richard. »Ehe ich ihn zu Ende lesen konnte, wurden wir von Soldaten überfallen, die Nicholas geschickt hatte, um uns gefangen zu nehmen. Aber das habe ich Euch doch schon erzählt – das war, als Sabar ums Leben kam. Der Brief ist während des Kampfes den Flammen zum Opfer gefallen.«
Nicci ließ sich kraftlos nach hinten sinken. »Bei den Gütigen Seelen«, murmelte sie. »Und ich dachte, du wüsstest es.«
Richard war hundemüde und mit seiner Geduld am Ende. »Ich wüsste was?«
Nicci ließ ihre Arme sinken. Im trüben Licht sah sie zu ihm hoch und stieß einen erschöpften Seufzer aus. »Jagang hatte eine Möglichkeit gefunden, wie die Schwestern der Finsternis, die er gefangen hielt, ihre Talente dazu benutzen konnten, Menschen in Waffen zu verwandeln, ganz so wie damals, während des Großen Krieges. Er ist in vieler Hinsicht ein brillanter Kopf, dem stets sehr daran gelegen ist, hinzuzulernen. Er sammelt die Bücher, die ihm bei den Plünderungen in die Hände fallen, ich habe einige davon selbst gesehen. Neben einer Vielzahl verschiedenster Folianten besitzt er uralte Handbücher über Magie, ungefähr aus der Zeit des Großen Krieges. Das Problem ist, dass er, obwohl er einerseits ein Traumwandler und auf manchen Gebieten durchaus brillant sein mag, nicht die Gabe besitzt, weshalb seine diesbezüglichen Kenntnisse – sein Wissen, was genau Han bedeutet und wie diese lebendige Kraft funktioniert – bestenfalls lückenhaft sind. Wer selbst keine Magie besitzt, dem fällt es nicht eben leicht, diese Dinge zu begreifen. Du besitzt die Gabe, aber nicht einmal du verstehst sie wirklich, noch weißt du viel über ihre Funktionsweise. Weil aber Jagang mit Magie nicht umzugehen weiß, pfuscht er planlos herum und verlangt Dinge, nur weil er, der große Kaiser, der seine Visionen um jeden Preis verwirklicht sehen möchte, sie sich zusammenfantasiert hat.«
Richard rieb sich mit den Fingern über die Stirn, um den Schmutz zu entfernen. »Ihr solltet ihn in diesem Punkt nicht unterschätzen. Möglicherweise weiß er sehr viel genauer, was er tut, als Euch bewusst ist. Mag sein, dass ich auf dem Gebiet der Magie nicht sonderlich beschlagen bin, aber eins habe ich gelernt: Magie lässt sich durchaus als eine Art Kunst betrachten. Durch den künstlerischen Ausdruck – ein besseres Wort fällt mir im Augenblick nicht ein – ist es möglich, eine Magie zu erschaffen, wie es sie zuvor noch nie gegeben hat.«
Nicci starrte ihn an, einen Ausdruck ungläubigen Staunens auf dem Gesicht. »Ich weiß wirklich nicht, wo du so etwas aufgeschnappt haben könntest, Richard, aber so funktioniert es einfach nicht.«
»Ja, ja, ich weiß. Kahlan war auch immer der Meinung, dass ich mich damit auf sehr dünnes Eis begebe. Sie ist unter lauter Zauberern aufgewachsen, sie kennt sich bestens mit Magie aus und hat in der Vergangenheit immer hartnäckig darauf beharrt, dass ich mich irre. Aber dem ist nicht so, ich habe es nämlich selbst schon getan –ich habe mich durch eine neue und originelle Anwendungsweise von Magie aus ansonsten ausweglosen Situationen selbst befreien können.«
Nicci musterte ihn mit dem für sie typischen Blick, der einen zu zerlegen schien, und plötzlich wurde ihm auch klar, warum. Es lag mitnichten nur an seinen Äußerungen über Magie, er hatte wieder angefangen, von Kahlan zu sprechen, der Frau, die gar nicht existierte, der Frau, die er sich zusammenfantasiert hatte. Auch Caras Miene verriet ihre stumme Besorgnis.
»Wie auch immer«, kehrte Richard zum springenden Punkt zurück. »Dass Jagang nicht die Gabe besitzt, bedeutet noch lange nicht, dass er sich nicht irgendetwas – Albträume, wie zum Beispiel diesen Nicholas – zusammenfantasieren kann. Gerade dieser originelle Einsatz der Fantasie ist es, durch den die mörderischsten Dinge erschaffen werden, gegen die alle herkömmlichen Mittel womöglich nutzlos sind. Meiner Meinung nach könnte dies sogar die Methode gewesen sein, mit deren Hilfe die Zauberer in früherer Zeit überhaupt erst Menschen in Waffen verwandelt haben.«
Nicci war innerlich so aufgewühlt, dass sie kaum noch an sich halten konnte. »So funktioniert Magie ganz einfach nicht, Richard. Man kann sich nicht einfach irgendwas zusammenfantasieren, was man gern hätte, sich irgendwas wünschen. Wie alle anderen Dinge auch funktioniert Magie gemäß den Gesetzen ihrer Natur. Eine Laune macht aus einem Baum noch keine Bretter, man muss ihn schon in der gewünschten Form zurechtschneiden. Und wenn man ein Haus will, genügt es nicht, sich zu wünschen, die Ziegelsteine und Bretter mögen sich zu einem Bauwerk zusammenfügen, man muss schon seine Hände benutzen, um das Gebäude zu errichten.«
Richard beugte sich zu der Hexenmeisterin hinüber. »Richtig, aber es ist die menschliche Fantasie, die diese konkreten Handlungen nicht nur ermöglicht, sondern auch ihren Erfolg garantiert. Die meisten Baumeister denken in bereits bestehenden Begriffen, sie wiederholen, was auch früher schon gemacht wurde, eben weil man es nicht anders kannte. Meist sind sie zu bequem, um nachzudenken, und machen sich deshalb kein Bild von etwas Größerem. Sie beschränken sich auf das Althergebrachte und führen als Entschuldigung an, es müsse eben so gemacht werden, weil es schon immer so gemacht wurde. Mit Magie verhält es sich meist ebenso – die mit der Gabe Gesegneten wiederholen, was sie von früher kennen, weil sie aus keinem anderen Grund als dem, dass es immer schon so gemacht wurde – glauben, so müsse es gemacht werden. Doch ehe ein prachtvoller Palast errichtet werden kann, muss jemand, der kühn genug ist, eine Vision des Möglichen zu wagen, zuvor ein geistiges Bild von ihm entworfen haben. Ein Palast entsteht nicht einfach spontan zur allgemeinen Überraschung, obwohl die Arbeiter ursprünglich nur ein einfaches Haus errichten wollten. Allein der bewusste Akt geistiger Schöpfung ist imstande, Dinge Wirklichkeit werden zu lassen. Damit nun dieser Akt kreativer Fantasie zur Verwirklichung eines Palasts führen kann, darf er unter keinen Umständen die Gesetze über die Natur der dabei verwendeten Dinge verletzen. Im Gegenteil, wer sich mit dem Ziel, einen Palast entstehen zu lassen, ein geistiges Bild von diesem Werk macht, muss über präzise Kenntnis aller Dinge verfügen, die er bei dem Bau zu verwenden gedenkt, denn sonst wird der Palast in sich zusammenstürzen. Seine Kenntnisse vom Wesen der verwendeten Materialien müssen sehr viel ausgeprägter sein als bei jemandem, der sie nur für den Bau eines einfachen Hauses verwendet. Es geht also nicht darum, sich etwas zu wünschen, das die Gesetze der Natur sprengt, sondern es geht um originelles, auf den Gesetzen der Natur basierendes Denken.«