Ein Lächeln auf den Lippen, schaute Nicci zu ihm hoch. »Ja, das trifft es auf den Punkt.«
»Aber er hatte Nicholas doch von Truppen begleiten lassen, um ein Land zu regieren und um uns gefangen zu nehmen.«
»Eine reine Frage der Bequemlichkeit. Jagang hatte Nicholas das Verlangen eingeimpft, Jagd auf dich zu machen, was aber nur Teil seiner Experimente im Hinblick auf seine höheren Ziele war. Im Grunde hielt er den Schleifer gar nicht für fähig, seinen metaphysischen, übermenschlichen Ehrgeiz zu befriedigen. Mag sein, dass Jagang dich dafür hasst, ein Hemmnis auf dem Weg zu seiner Eroberung der Neuen Welt zu sein, gut möglich auch, dass er dich für einen seiner nichtswürdigen Gegner hält, in dir nur einen sittenlosen Heiden sieht, der nichts anderes als den Tod verdient hat, dennoch ist er klug genug, dir gewisse Fähigkeiten zuzubilligen. Im Grunde verhält es sich so wie mit dem Fall des gefangenen Soldaten, den du geschickt hast, um Jagang zu töten. Du nahmst nicht wirklich an, dass ein einzelner Soldat tatsächlich imstande wäre, eine so schwierige Aufgabe wie die Ermordung eines gut bewachten Kaisers zu bewältigen, andererseits hatte der Mann ansonsten keinen Wert für dich, und da du überzeugt warst, es bestünde zumindest die Chance, dass er irgendwas erreicht, konntest du ihn ebenso gut auf diese Mission schicken, während du an weitaus besseren Ideen arbeitetest, von denen du dir erhebliche größere Erfolgschancen versprachst. Und wenn der Soldat dabei getötet würde, wäre dir das auch recht, denn dieses Schicksal erwartete ihn ohnehin. Genau so verhielt es sich in Nicholas’ Fall. Er war eine mithilfe von Magie erschaffene Kreatur, eine Fingerübung auf dem Weg zu einem absolut überlegenen Wesen. In Jagangs Schlachtplan spielte er keine übermäßig wertvolle Rolle, also hat er ihn benutzt, statt ihn zu töten. Im Falle eines Erfolges hätte Jagang einen entscheidenden Vorteil errungen, und wenn du ihn getötet hättest, hättest du ihm nur einen Gefallen getan.«
Richard fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Er fühlte sich überwältigt angesichts dieser weit reichenden Verflechtungen. Nicci hatte er vorgeworfen, sie sperre sich dagegen, den größeren Zusammenhang zu erkennen, und nun hatte er sich desselben Versäumnisses schuldig gemacht. »Also gut«, sagte er, »was könnte Jagang Eurer Meinung nach erschaffen, das noch übler ist als Nicholas der Schleifer?«
Der Lärm der Zikaden schien in diesem Moment von bedrückender Aufdringlichkeit, so als wären sie der Feind, der ihn von allen Seiten bedrängte.
»Ich glaube, dass er einen gewaltigen Sprung nach vorn gemacht und ein solches Meisterwerk bereits erschaffen hat«, antwortete Nicci mit ruhiger Entschlossenheit. Sie zog sich ihre Decke um die Schultern und raffte sie am Hals zusammen. »Ich denke, das war es, womit die Männer es dort hinten im Wald zu tun bekommen haben.«
In der nahezu völligen Dunkelheit betrachtete Richard ihren Gesichtsausdruck. »Was wisst Ihr darüber?«
»Nicht eben viel«, gestand sie. »Nur ein paar hastig geflüsterte Worte einer meiner ehemaligen Mitschwestern kurz vor Antritt einer Reise.«
»Einer Reise?«
»In das Totenreich.«
Der Klang ihrer Stimme und die Art, wie sie den Blick dabei ins Unbestimmte richtete, bewogen Richard, sich nicht näher nach dem Grund für die Reisepläne dieser Frau zu erkundigen. »Und was hat sie Euch nun erzählt?«
Nicci stieß einen erschöpften Seufzer aus. »Dass Jagang schon seit geraumer Zeit Wesen fabriziert – aus dem Leben von Gefangenen, aber auch von Freiwilligen. Einige dieser jungen Zauberer glauben tatsächlich, sie opfern sich für einen höheren Zweck.« Nicci schüttelte den Kopf über diesen beklagenswerten Irrglauben. »Diese Schwester war es auch, die mir erzählte, Nicholas sei nichts weiter als ein Sprungbrett zu den eigentlichen und erhabenen Zielen Seiner Exzellenz.« Nicci sah abermals auf, um sich zu vergewissern, dass ihr Richard aufmerksam zuhörte. »Sie erzählte, Jagang stünde unmittelbar vor der Erschaffung eines Geschöpfes, ähnlich dem, das er in den alten Schriften gefunden hatte, nur weitaus tödlicher und –unbesiegbar.«
Die feinen Härchen in Richards Nacken stellten sich auf. »Ein Geschöpf? Was für eine Art von Geschöpf?«
»Eine Bestie, eine unbesiegbare, brutale Bestie.«
Beim unheilvollen Klang des Wortes musste Richard schlucken. »Und was tut diese ... diese Kreatur? Habt Ihr das in Erfahrung bringen können? Was ist ihre Natur?«
Aus irgendeinem Grund brachte er es in diesem Moment einfach nicht über sich, das von ihr gebrauchte Wort laut auszusprechen, so als könnte seine Nennung sie aus dem Dunkel der sie umgebenden Nacht herbeirufen. Nicci wandte ihre bekümmerten Augen ab. »Als die Schwester in die Arme des Todes hinüberglitt, lächelte sie wie der Hüter höchstselbst, der soeben reiche Seelenbeute gemacht hat, und sagte: ›Sobald er seine Kraft benutzt, wird die Bestie Richard Rahl endgültig erkennen. Dann wird sie ihn finden und ihn töten. Und damit wird sein Leben endlich beendet sein, so wie meines jetzt«
Richard musste sich zwingen zu blinzeln. »Hat sie außerdem noch etwas gesagt?«
Nicci schüttelte den Kopf. »Sie rang in diesem Moment bereits mit dem Tod. Dann wurde es plötzlich völlig schwarz im Raum, als der Hüter ihre Seele zu sich nahm, als Bezahlung für diverse Handel, auf die sie sich einst eingelassen hatte. Und seitdem lässt mich eine Frage nicht mehr los: Wie hat dieses Geschöpf uns überhaupt gefunden? Trotzdem, ich glaube, die Situation ist nicht ganz so aussichtslos, wie es vielleicht den Anschein hat. Schließlich hast du deine Gabe nicht benutzt, demnach dürfte Jagangs Bestie noch keine Gelegenheit gehabt haben, dich aufzuspüren.«
Richard senkte den Blick auf seine Stiefel. »Als die Soldaten angriffen«, sagte er bedrückt, während er mit dem Finger über den Rand der Ledersohle strich, »habe ich meine Gabe benutzt, um die Pfeile abzulenken. Wenn auch im Fall des letzten nicht sonderlich erfolgreich.«
Cara widersprach. »Lord Rahl, ich denke, das trifft nicht zu. Ich glaube, Ihr habt die Pfeile mit Eurem Schwert abgewehrt.«
»Ihr wart in dem Augenblick doch gar nicht dabei, also könnt Ihr auch nicht mitbekommen haben, was passiert ist«, sagte Richard und schüttelte düster den Kopf. »Ich habe das Schwert benutzt, um mich der Soldaten zu erwehren, also konnte ich es gar nicht gleichzeitig zur Abwehr Dutzender von Pfeilen benutzen. Das habe ich mit meiner Gabe getan.«
Mittlerweile hatte Nicci eine kerzengerade Haltung eingenommen. »Du hast von deiner Gabe Gebrauch gemacht? Wie hast du sie auf den Plan gerufen?«
Verlegen zuckte Richard mit den Schultern. Er hätte sich gerne genauer erinnert, was er getan hatte. »Über das Verlangen, glaube ich. Ich wusste ja nicht, dass ich am Ende schuld daran sein würde ...«
Sie berührte ihn sachte am Arm. »Sei nicht albern, du musst dir keine Vorwürfe machen. Woher hättest du das wissen sollen? Hättest du dich nicht so verhalten, wie du es getan hast, wärst du getötet worden. Du musstest handeln, um dein Leben zu retten. Von der Bestie konntest du ja schließlich nichts wissen. Außerdem bist du womöglich gar nicht alleine für ihr Auftauchen verantwortlich.«
Richard sah sie fragend an. »Was soll das denn nun schon wieder heißen?«
Nicci ließ sich nach hinten gegen die Felswand sinken. »Ich fürchte, möglicherweise habe ich selbst dazu beigetragen, dass diese Bestie uns finden kann.«
»Ihr? Wie denn das?«
»Ich habe, wie schon berichtet, subtraktive Magie benutzt, um das Blut aus deinem Körper zu entfernen und dich heilen zu können. Die Schwester hat es damals zwar nicht ausdrücklich erwähnt, trotzdem habe ich das unbehagliche Gefühl, dass diese Kreatur irgendwie mit der Unterwelt in Verbindung steht. Wenn dem so ist, könnte ich ihr, als ich mithilfe subtraktiver Magie dein Blut entfernte, sozusagen unabsichtlich eine Kostprobe deines Blutes gegeben haben.«
»Ihr habt genau richtig gehandelt«, warf Cara ein. »Ihr habt das einzig Mögliche getan. Hättet Ihr Lord Rahl stattdessen sterben lassen, hättet Ihr Jagang nur in die Hände gespielt.«