Niccis viel zu regloser Miene war deutlich zu entnehmen, dass sie auch dies für nichts anderes als einen Teil seiner ausgeklügelten Selbsttäuschung über diese Frau aus seinen Träumen hielt. Dann fiel ihm ein, was außerdem noch passiert war. »Allerdings wurden wir, kurz nachdem Sabar Euren Brief überbracht hatte, angegriffen. Bei dem Gefecht ist er ums Leben gekommen.«
Ein heimlicher Seitenblick auf Cara trug ihr ein bestätigendes Nicken ein. »Bei den Gütigen Seelen«, machte Nicci ihrem Kummer über die Nachricht von dem jungen Sabar Luft – eine Gefühlsregung, die Richard teilte. Er erinnerte sich noch gut an Niccis eindringliche Warnung, dass Jagang dazu übergegangen sei, Waffen aus mit der Gabe gesegneten Menschen zu entwickeln, wie schon einmal, während des Großen Krieges vor dreitausend Jahren. Eine Entwicklung, die überaus Besorgnis erregend war und eigentlich als unmöglich galt, aber offenbar hatte Jagang dennoch einen Weg gefunden – indem er sich der Schwestern der Finsternis bediente, die er als Gefangene hielt.
Bei dem Überfall auf ihr Lager war der Brief ins Lagerfeuer gestoßen worden, sodass Richard ihn nicht hatte zu Ende lesen können, immerhin aber weit genug, um die Gefahr zu erkennen. Dann ging Richard zum Tisch hinüber, auf dem sein Schwert lag. Als er das Schwert an seiner polierten Scheide aufnahm, wunderte er sich kurz, warum er, als er den Wolf heulen hörte und aufgewacht war, geglaubt hatte, das Schwert liege neben ihm auf dem Boden, verfolgte den Gedanken aber nicht weiter. Er streifte den alten Waffengurt aus geprägtem Leder über den Kopf, rückte die Scheide an seiner rechten Hüfte zurecht und vergewisserte sich, dass sie gut befestigt war.
Unvermittelt schössen ihm bruchstückhafte Erinnerungen an das Gemetzel durch den Kopf. Alles war ganz plötzlich und völlig unerwartet über ihn hereingebrochen, aber nachdem er das Schwert in seinem Zorn blankgezogen hatte, war das Überraschungsmoment gar nicht mehr entscheidend gewesen, entscheidend war ihre erschreckende zahlenmäßige Unterlegenheit. Ihm war nur zu bewusst, wie Recht Nicci mit ihrer Bemerkung hatte, er sei nicht unbesiegbar.
Kurz nach seiner ersten Begegnung mit Kahlan hatte ihn Zedd kraft seines Amtes als Oberster Zauberer zum Sucher ernannt und ihm das Schwert übergeben. Damals hatte er die Waffe gehasst für das, was sie fälschlicherweise in seinen Augen repräsentierte. Jetzt war das Schwert über die Bande mit ihm und seinen Zielen verbunden, wurde es von seinen Absichten gelenkt, und von Anfang an war es sein Ziel, seine Absicht gewesen, all jene zu beschützen, die er liebte und denen er zugetan war. Um das zu erreichen, musste er, das hatte er zu guter Letzt erkannt, bei der Gestaltung einer Welt helfen, in der sie in Frieden und Sicherheit leben konnten. Durch dieses Ziel erhielt das Schwert für ihn erst seine Bedeutung.
Sein jetziges Ziel war es, Kahlan aufzuspüren, und wenn ihm das Schwert dabei nützlich sein konnte, würde er nicht zögern, es zu gebrauchen.
Er nahm sein Bündel auf und schwang es herum, sodass es an der gewohnten Stelle auf seinem Rücken zu liegen kam, während er den fast leeren Raum nach persönlichen Dingen absuchte, die er womöglich übersehen hatte. Auf dem Fußboden neben der Feuerstelle entdeckte er etwas Trockenfleisch sowie einige Reisekekse. Daneben lagen, zu einem Bündel geschnürt, weitere Lebensmittel. Auch die einfachen hölzernen Schalen von Richard und Cara standen dort, die eine gefüllt mit Fleischbrühe, die andere mit einem Rest Hafergrütze. »Cara«, sagte er, während er drei Wasserschläuche aufnahm und sich ihre Riemen um den Hals schlang, »denkt daran, alle transportfähigen Lebensmittel zusammenzusuchen und mitzunehmen. Und vergesst die Schalen nicht.«
Cara nickte. Als sie sah, dass er nicht die Absicht hatte, sie zurückzulassen, ging sie daran, alles methodisch zusammenzupacken.
Nicci bekam seinen Ärmel zu fassen. »Ich meine es ernst, Richard, wir müssen reden. Es ist wichtig.«
»Dann tut, worum ich Euch gebeten habe: Holt Eure Sachen und begleitet mich.« Er schnappte sich seinen Bogen mitsamt Köcher. »Solange Ihr mich nicht behindert, könnt Ihr reden, so viel Ihr wollt.«
Mit einem resignierten Nicken gab Nicci ihre Vorbehalte auf und eilte ins Hinterzimmer, um ihre persönlichen Sachen zu holen. Richard hatte gar nichts dagegen, sie mitzunehmen, im Gegenteil, ihre Hilfe kam ihm sehr zupass. Ihre Gabe konnte sich bei der Suche nach Kahlan als nützlich erweisen. Tatsächlich war genau dies seine Absicht gewesen, als er unmittelbar vor dem Überfall aufgewacht war und Kahlans Verschwinden bemerkt hatte – er wollte Nicci finden und sie um ihre Hilfe bitten.
Richard schlang sich seinen mit einer Kapuze versehenen Waldumhang um die Schultern und ging zur Tür. Cara, die zur Feuerstelle geeilt war, um die letzten Teile ihrer Ausrüstung zusammenzupacken, bedeutete ihm mit einem kurzen Nicken, dass sie jeden Moment nachkommen würde. Im Hinterzimmer konnte er Nicci erkennen, die sich beeilte, ihre Sachen zusammenzusuchen, ehe er einen zu großen Vorsprung hatte.
Die Macht der Gewohnheit ließ ihn sein Schwert kurz aus der Scheide heben, um sich zu vergewissern, dass es sich mühelos ziehen ließ, dann stieß er die einfache Brettertür auf. Als die draußen auf und ab gehenden Männer ihn aus der kleinen Kate treten sahen, kamen sie von allen Seiten herbeigeströmt. Diese Männer waren streng genommen gar keine Soldaten, sie waren Karrenlenker, Müller, Tischler, Steinmetze, Bauern und Händler, die sich ihr ganzes Leben unter der unterdrückerischen Herrschaft der Imperialen Ordnung abgemüht hatten, um unter großen Entbehrungen ihren kargen Lebensunterhalt zu verdienen und ihre Familien durchzubringen.
Für die meisten dieser hart arbeitenden Menschen bedeutete das Leben in der Alten Welt ein Leben in ständiger Angst. Wer es wagte, die Stimme gegen die Methoden der Imperialen Ordnung zu erheben, wurde kurzerhand verhaftet, der aufrührerischen Agitation beschuldigt und hingerichtet. Ob berechtigt oder nicht, es wurden unablässig Anklagen erhoben, Verhaftungen vorgenommen. Diese Art der Schnell-»Justiz« hielt die Menschen in ständiger Angst und bei der Stange.
Durch fortwährende Indoktrination, insbesondere der Jugend, erreichte man, dass ein entscheidender Teil der Bevölkerung geradezu fanatisch von den Methoden der Imperialen Ordnung überzeugt war. Kinder bekamen von Geburt an eingetrichtert, dass selbstständiges Denken falsch und der inbrünstige Glaube an Selbstaufopferung im Namen des Allgemeinwohls die einzige Möglichkeit sei, nach dem Tode ein ruhmreiches Leben im Licht des Schöpfers zu verbringen und zu verhindern, dass man, hilflos der Ungnade des Hüters ausgeliefert, die Ewigkeit in den finsteren Gefilden der Unterwelt fristen musste.
Aus den Reihen dieser Pflichtgetreuen rekrutierte sich ein steter Strom von Freiwilligen für die Armee, die es gar nicht erwarten konnten, sich in den edlen Kampf zur Niederwerfung aller Ungläubigen zu stürzen, die Gottlosen ihrer gerechten Strafe zuzuführen und alle unrechtmäßig erworbenen Gewinne zu konfiszieren. Durch das Billigen von Plünderungen, der ungezügelten Herrschaft grausamster Brutalität und der weit verbreiteten Vergewaltigungen aller Unbekehrten wurde eine besonders bösartige und ansteckende Form fanatischen Glaubenseifers erzeugt, der eine Armee von Wilden hervorgebracht hatte. Solcherart war das Wesen der Soldaten der Imperialen Ordnung, die in die Neue Welt eingefallen waren und die nun in Richards und Kahlans Heimat nahezu ungehindert wüteten. Die Männer, die jetzt vor ihm standen, hatten jedoch die hohlen Ideen und korrupten Versprechungen der Imperialen Ordnung durchschaut und als das erkannt, was sie waren: Tyrannei. Sie hatten beschlossen, ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen, und das machte sie zu Kriegern im Kampf für die Freiheit. Ein überraschter, immer mehr anschwellender Lärm aus lauten Begrüßungsrufen und Freudenschreien zerriss die morgendliche Stille. Alles redete gleichzeitig, als sich die Männer dicht um ihn scharten, nachfragten, ob er wieder genesen sei, und sich nach seinem Wohlbefinden erkundigten. Ihre aufrichtige Sorge rührte ihn. Trotz seines Gefühls dringend gebotener Eile zwang sich Richard, zu lächeln und die Männer, die er aus der Stadt Altur’Rang kannte, mit beidhändigem Händedruck zu begrüßen. Dies entsprach schon eher der Art von Wiedersehen, die sie sich erhofft hatten.