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Richard hatte nicht nur mit vielen von ihnen Seite an Seite gearbeitet und sich mit anderen angefreundet, er war sich auch bewusst, dass er – der Lord Rahl aus der Neuen Welt, der Lord Rahl aus einem Land, wo die Menschen ein Leben in Freiheit führten – für sie ein Symbol der Freiheit war. Er hatte ihnen den Beweis geliefert, dass sie die gleichen Möglichkeiten hatten, und ihnen eine Vision davon gegeben, wie ihr Leben dereinst aussehen könnte.

In diesem Augenblick jedoch interessierte ihn nur eins: Er wollte, ja, er musste Kahlan wieder finden. Ohne sie erschien ihm alles andere, sogar das Leben selbst, nicht mehr sonderlich bedeutsam. Nicht weit entfernt stand, an einen Pfosten gelehnt, ein stämmiger Bursche, der nicht lächelte, sondern eine bedrohliche Miene aufgesetzt hatte, die in seiner Stirn bereits bleibende Falten hinterlassen hatte. Die Arme vor der Brust verschränkt, beobachtete er die anderen, wie sie Richard stürmisch begrüßten. Richard bahnte sich einen Weg durch die Menge, immer wieder Hände schüttelnd, und hielt auf den finster dreinblickenden Schmied zu. »Victor!«

Dessen finsterer Blick wich einem eher hilflosen Grinsen. Er fasste sich mit Richard bei den Armen. »Nicci und Cara haben mir nur zweimal erlaubt, nach Euch zu sehen. Wenn sie mich heute Morgen nicht zu Euch gelassen hätten, hätte ich ihnen ganz sicher ein paar Eisenstangen um den Hals geknotet.«

»Warst du das – gleich am ersten Morgen? Der auf dem Weg hinaus an mir vorbeigegangen ist und mich dabei an der Schulter berührt hat?«

Victor nickte grinsend. »Ja, das war ich. Ich hab geholfen, Euch hierher zu tragen.« Er legte Richard seine kräftige Pranke auf die Schulter und rüttelte ihn probeweise. »Ihr scheint ja wieder halbwegs beieinander zu sein, wenn auch ein wenig blass. Ich hab etwas Lardo dabei – das wird Euch Kraft geben.«

»Es geht mir ausgezeichnet, später vielleicht. Danke, dass du geholfen hast, mich herzutragen. Hör zu, Victor, hast du Kahlan irgendwo gesehen?«

Die tiefen Furchen in Victors Gesicht kehrten zurück. »Kahlan?«

»Meine Frau.«

Victor starrte ihn an, ohne auch nur im mindesten zu reagieren. Sein Haar war so kurz geschoren, dass sein Schädel wie rasiert wirkte. Der Regen bildete Perlen auf seiner Kopfhaut. Verwundert hob er eine Augenbraue. »Ihr habt Euch während Eurer Abwesenheit eine Frau genommen, Richard?«

Richard warf einen verzweifelten Blick über seine Schulter zu den anderen Männern, die zu ihm herübersahen. »Hat irgendeiner von euch Kahlan gesehen?«

Viele blickten ihm mit ausdruckslosen Mienen entgegen, andere wechselten verwirrte Blicke mit ihrem Nebenmann. Über den grauen Morgen hatte sich Stille gesenkt. Offenkundig wussten sie nicht, von wem er überhaupt redete, dabei kannten viele dieser Männer Kahlan und hätten sich an sie erinnern müssen. Jetzt hingegen schüttelten sie nur die Köpfe und zuckten mit einem Ausdruck des Bedauerns die Schultern. Richards Stimmung sank. Das Problem war gravierender, als er gedacht hatte, war er doch der Meinung gewesen, es handle sich lediglich um irgendeine Art Störung in Niccis und Caras Erinnerungsvermögen. Er wandte sich wieder herum zu dem fragend dreinblickenden Schmied. »Victor, ich stecke in Schwierigkeiten und habe keine Zeit für Erklärungen. Ich weiß nicht einmal, wie ich es erklären sollte. Ich brauche deine Hilfe.«

»Was kann ich tun?«

»Bring mich zu der Stelle, wo wir gekämpft haben.«

Victor nickte. »Nichts einfacher als das.«

Damit machte er kehrt und stapfte los in Richtung des dunklen Waldes.

4

Mit zwei Fingern schob Nicci einen nassen Balsamtannenzweig aus dem Weg und folgte einer Gruppe der Männer durch das dichte Gestrüpp, bis sie an den Rand eines dicht bewaldeten Felsengrats gelangten, wo sie einen Trampelpfad hinabstiegen, der, um den steilen Abhang zu bewältigen, in scharfen Kehren nach unten führte. Schlüpfrige Felsen machten den Abstieg zu einem tückischen Unterfangen, aber der Weg war kürzer als jener, den sie benutzt hatten, um Richard nach seiner Verwundung zu der verlassenen Bauernkate zu transportieren. Unten angekommen, suchten sie sich vorsichtig einen Weg über nackte, zerklüftete Felsen und Findlinge und umgingen so den Rand eines Sumpfgebietes, das von einer Gruppe himmelwärts ragender, silbern verwitterter, im stehenden Wasser Wache haltender Zedernskelette behütet wurde. Über die moosbewachsenen Böschungen rieselten kleine Rinnsale, die sich tief in den lehmigen Waldboden eingegraben hatten, sodass darunter das fleckige Granitgestein zutage trat. In einer Reihe tiefer gelegener Stellen hatte der seit mehreren Tagen anhaltende Regen Tümpel stehenden Wassers hinterlassen. Obwohl sie von dem kurzen, beschwerlichen Fußmarsch erhitzt war, waren Niccis Finger und Ohren noch immer taub vor Kälte. Trotzdem wusste sie, hier unten, tief im Süden der Alten Welt, würden Hitze und Feuchtigkeit binnen kürzester Zeit wieder mit solcher Heftigkeit einsetzen, dass sie sich noch nach der unüblichen Phase kühler Witterung zurücksehnen würde. Aufgewachsen in der Stadt, hatte Nicci nur wenig Zeit in freier Natur verbracht. Draußen, das bedeutete im Palast der Propheten, wo sie den größten Teil ihres Lebens zugebracht hatte, die gepflegten Rasenflächen und Gärten der Parkanlagen, welche die gesamte Insel Collier bedeckten. Die unberührte Natur war ihr stets irgendwie feindselig erschienen, ein Hindernis zwischen zwei Städten, das man am besten mied. Städte und Gebäude waren für sie Zufluchtsstätten vor den unergründlichen Gefahren der Wildnis. Darüber hinaus aber waren Städte jene Orte, an denen sie sich unermüdlich für die Verbesserung der Menschheit eingesetzt hatte, eine Arbeit, die nie ein Ende zu nehmen schien. Für Wälder und Felder hatte sie sich nie interessiert.

Nicci hatte die Schönheit der Hügel, Bäume, Bäche, Seen und Berge erst zu würdigen gelernt, nachdem sie Richard begegnet war. Sogar die Städte hatte sie danach mit ganz neuen Augen gesehen. Dank Richard hatte sich für sie das Leben in ein einziges Wunder verwandelt.

Vorsichtig tastete sie sich über den schlüpfrigen, dunklen Fels eines kurzen Anstiegs, bis sie die übrigen Männer schließlich vor sich sah, die ruhig unter den ausladenden Zweigen eines alten Ahornbaumes warteten. Ein Stück abseits war Richard in die Hocke gegangen, um eine Stelle des Waldbodens zu untersuchen. Schließlich erhob er sich und starrte in die dunkle Weite der dahinter liegenden Wälder. Neben ihm stand Cara, sein allgegenwärtiger Schatten, deren roter Lederanzug der Mord-Sith unter dem dichten Laubdach aus wohltuendem Grün hervorstach wie ein Blutfleck auf der blütenweißen Tischdecke beim Tee.

Das vor ihnen liegende Gelände war mit toten Soldaten übersät, deren Verwesungsgestank jedermann stark zusetzte. Einem beträchtlichen Teil der Männer fehlten Kopf oder Gliedmaßen, einige lagen halb versunken in Tümpeln stehenden Wassers. Viele waren bereits von den Raben und anderen Tieren heimgesucht worden, die sich die Gelegenheit, welche sich ihnen in Gestalt der klaffenden Wunden bot, nicht hatten entgehen lassen. Die schweren Lederrüstungen, die dicken Felle und mit Nieten besetzten Gürtel, die Kettenpanzer sowie eine Vielzahl schauriger Waffen – all das nützte diesen Soldaten nichts mehr. Da und dort hielten die Knöpfe die über den aufgedunsenen Körpern spannenden Kleidungsstücke mit knapper Not zusammen, so als wollten sie einen letzten Rest von Würde wahren, wo es so etwas wie Würde nicht mehr gab.

Alles – vom Fleisch und den Gebeinen der Männer bis zu ihren fanatischen Glaubensvorstellungen – würde in diesem vergessenen Fleckchen Wald zurückbleiben und verrotten. Jenseits des stehenden Gewässers ging Richard abermals in die Hocke und untersuchte den Waldboden. Niemand konnte sich vorstellen, wonach er suchte.