»Morgen abend«, sagte er, »wenn das Thing vorbei ist, solltest du von hier verschwunden sein. Mein Eid gilt nur für die Zeit des Thing – und keinen Augenblick länger.«
»Ich glaube, du hast sechs Talmits für mich«, sagte Forkbeard.
Svein Blue Tooth starrte ihn aufgebracht an.
»Einer fürs Schwimmen«, zählte Forkbeard auf, »einer für das Stangensteigen, einer für das Schluchtspringen, einer für das Ruderschreiten und zwei für meine Geschicklichkeit mit dem Speer.«
Blue Tooth war sprachlos.
»Das wären sechs«, sagte Forkbeard. »In der Geschichte des Thing hat noch kein Champion so gut abgeschnitten.«
Blue Tooth streckte Forkbeard die Talmits hin, doch der andere neigte bescheiden das Haupt.
Als hoher Jarl von Torvaldsland blieb Svein Blue Tooth gar nichts anderes übrig, als Ivar Forkbeard die sechs Talmits um die Stirn zu binden.
In der Menge klang großer Jubel auf, auch ich brüllte begeistert mit. Auf seine Art war Svein Blue Tooth gar kein so übler Bursche.
»Morgen abend«, wiederholte der Jarl nachdrücklich.
»Du zürnst mir«, erwiderte Ivar Forkbeard, »und würdest mich unterhalb des Salzes setzen, nur weil ich ein Geächteter bin.«
»Ich zürne dir und würde dich nicht einmal in meine Halle lassen«, erwiderte Svein Blue Tooth, »weil du der größte Erzgauner in ganz Torvaldsland bist!«
Ich sah, daß sich Forkbeard über dieses Kompliment ungemein freute; er war eben immer auf seinen Ruf bedacht.
»Aber ich habe die Mittel, mich von dem Bann zu befreien, den du über mich gesprochen hast«, fuhr Forkbeard fort.
»Unmöglich!« rief Blue Tooth. Einige seiner Männer lachten. »Niemand könnte das Wergeld aufbringen, das ich festgesetzt habe.«
»Du hast von der Befreiung Chenbars aus den Verliesen von Port Kar gehört?« Forkbeard lächelte. »Du weißt von dem Angriff auf die Tempel in Kassau?«
»Du?« rief Blue Tooth.
Ich sah, wie es in den Augen Blue Tooths aufblitzte – und erkannte, daß er ein echter Torvaldsländer war. Alle Männer des Nordens haben einen unstillbaren Hang zur Räuberei.
»Das Wergeld, das ich festgesetzt habe«, sagte er langsam, »ist so hoch bemessen, daß es nach meiner Rechnung kein Mensch aufbringen kann. Hundert Stein in Gold, das Gewicht eines erwachsenen Mannes in Saphiren aus Shendi, und die einzige Tochter meines Feindes Thorgard von Scagnar.«
»Dürfte ich dir heute abend in deiner Halle die Ehre erweisen?« fragte Forkbeard.
Svein Blue Tooth sah ihn verblüfft an. Er betastete den schweren Zahn, der an einer Kette um seinen Hals hing.
In diesem Augenblick erhob sich Bera, seine Frau.
»Gib uns die Ehre und komm heute abend in unsere Halle, Champion«, sagte sie.
Blue Tooth widersprach ihr nicht. Die Frau eines Jarl hatte gesprochen.
Forkbeard musterte Svein Blue Tooth, der noch immer nervös an dem Zahn herumspielte.
»Ja«, sagte der Jarl. »Komm heute abend in meine Halle – Champion.«
Und wieder gab es laute Jubelrufe. Svein Blue Tooth, hoher Jarl von Torvaldsland, gefolgt von seiner Frau und seinen hohen Offizieren und Ratgebern, verließ die Plattform.
Wir hatten in der Halle Svein Blue Tooths vorzüglich gespeist.
Zahlreiche Tarsk und Bosk waren über dem langen Feuer an eisernen Spießen geröstet worden. Das Bier an den Tischen Blue Tooths war ausgezeichnet. Süß und stark war der Met.
Der Rauch des Feuers verflüchtigte sich zwischen den Dachstreben und stieg schließlich durch die Löcher des schrägen Dachs. Das Licht kam von den Kochfeuern, doch auch von Fackeln, die in Ringen an den Wänden steckten; da und dort hingen an langen Ketten große Tharlarionöllampen, die man von den Seiten her hochziehen und herablassen konnte.
Als Forkbeard, ich und Forkbeards Gefolgsleute, von denen einige schwere Lasten trugen, die Halle betraten, wies man uns Plätze in einem Nebenraum an, wo wir uns vor dem Fest waschen konnten. Das Zimmer hatte ein Fenster, was für torvaldsländische Hallen sehr ungewöhnlich war. Ich hatte den Finger gegen das Fenster gelegt und es nach außen gedrückt. Die Öffnung war nicht mit Glas verkleidet, sondern mit einer Art Membran, die fast so durchsichtig war wie Glas. »Was ist das?« hatte ich Forkbeard gefragt. »Das ist die getrocknete Nachgeburtsmembran eines Boskembryos«, erwiderte er. »So ein Stück hält viele Monate lang, auch bei Regen.« Durch das Fenster blickend, konnte ich die Palisade erkennen, die sich um die Halle zog, und einige Nachbargebäude. Die Palisade umgab etwa zwei Morgen; in ihrem Innern lagen Läden und Lagerhäuser und sogar ein Gebäude zur Aufbewahrung von Eis; in der Mitte ragte die große Halle auf, der riesige Palast des Nordens, das Haus Svein Blue Tooths. Durch die Membran sah ich kaum verzerrt die Palisade, den Laufsteg, der innen herumführte, die Wächter und darüber die Monde Gors. In der Ferne schimmerte das Mondlicht auf einem schneebedeckten Gipfel – auf dem Gipfel des Torvaldsberges, in dem der legendäre Torvald schlafen sollte.
Lächelnd wandte ich mich zu Ivar Forkbeard um. Ich sah, daß seine Männer ihre Lasten in einer Ecke des Nebenraums abgelegt hatten.
Forkbeard grinste mich an. Er war bei bester Laune und kam mir ganz und gar nicht wie ein Geächteter vor.
»Wenn ihr gewaschen seid und eure Vorbereitungen getroffen habt«, sagte ein junger Thrall, der in der Tür erschien, »wäre es gestattet, vor den hohen Sitz des Hauses zu treten, vor meinen Herrn, Svein Blue Tooth, Jarl von Torvaldsland.«
»Es ist uns eine Ehre«, hatte Forkbeard erwidert und vier seiner Männer abgestellt, die unseren Schatz bewachen sollten.
Wir sahen uns an. »Ich habe das Gefühl«, sagte ich, »daß wir einem Larl vor die Fänge laufen.«
»Keine Angst«, sagte Ivar. »Ich, Forkbeard, bin ja bei dir!«
»Wärst du nicht bei mir«, sagte ich, »würde ich mich wohl kaum so elend fühlen.«
»Ich verstehe«, meinte Forkbeard.
»Könnten wir nicht einfach in eine Grube voller giftiger Osts springen oder vielleicht während eines Gewitters über die Ebene der Wagenvölker rennen, die Schwerter über die Köpfe erhoben?«
»Es geht nicht nur darum, einem Larl vor die Fänge zu laufen«, sagte Forkbeard. »Das kann jeder Dummkopf.«
»Das weiß ich auch.«
»Der Trick besteht darin, dem Larl heil wieder zu entkommen.« Und Forkbeard blinzelte mir zu, was mich aber nicht sonderlich beruhigte.
»Du hast also wirklich Hoffnung, diese Eskapade lebend zu überstehen?«
»So etwas gehört zu meinem Plan«, bestätigte er. »Und dann, wenn das nicht klappt, sterben wir natürlich ehrenvoll, gegen einen übermächtigen Gegner. Mein Plan ist also narrensicher.«
»Du hast dir alles gut überlegt«, räumte ich ein. »Geh voran.«
Forkbeard hob kühn den Kopf und trat lächelnd aus dem Nebenraum. Am Eingang zur großen Halle blieb er stehen und hob die Hände, um die Anwesenden zu grüßen. Die zahlreichen Krieger hießen ihn begeistert willkommen. Immerhin hatte er sechs Talmits gewonnen. »Forkbeard grüßt euch!« brüllte Ivar. Ich blinzelte. Es war hell in der Halle. Ich hatte nicht geahnt, daß sie so groß war. An den Tischen saßen über tausend Männer und hoben Forkbeard ihre Bierkrüge und Messer entgegen. Gemessenen Schritts näherte er sich zu der Bank gegenüber dem hohen Sitz, wobei er ab und zu stehenblieb, um mit den Männern Svein Blue Tooths freundliche Worte zu wechseln. Ich folgte ihm mit seinen Männern. Dabei stellte ich fest, daß Blue Tooth Forkbeards Beliebtheit bei seinen Leuten ganz und gar nicht gefiel. Neben dem hohen Sitz hatte Bera Platz genommen. Wieder war ihr Haar hochgesteckt. Ihr Rock bestand aus gelber Wolle, und sie trug einen roten Umhang aus See-Sleen-Fell. Um ihren Hals lagen zahlreiche goldene Ketten.
Wir hatten in der Halle Svein Blue Tooths vorzüglich gespeist. Svein war ein reicher Mann, so daß wir während des Essens durch Akrobaten, Jongleure und Sänger unterhalten worden waren. Die Männer hatten brüllend gelacht, als einer der Akrobaten in das lange Feuer gefallen war und sich gleich darauf kreischend im Lehm gerollt hatte. Zwei andere Männer hatten einen Streit beigelegt, indem sie ein Tauziehen mit einem Boskfell veranstalteten. Dabei lag das lange Feuer zwischen ihnen. Als einer der beiden ins Feuer gezogen worden war, hatte der andere das Fell über ihn geworfen und war auf ihm herumgetrampelt. Ehe sich der Unglückliche befreien konnte, hatte er schlimme Brandwunden erlitten. Auch diese Einlage sorgte für große Heiterkeit an den Tischen. Die Jongleure hatten es ebenfalls nicht einfach, weil sie auf ihre wirbelnden Teller und Tassen achten mußten und über mehr als nur ausgestreckte Beine stolperten. Auch so mancher Sänger wurde von niederprasselnden Knochen und Tellern aus der Halle gescheucht.