»Nein. Aber ich habe sie nicht finden können.«
Ich sah ihn verwirrt an.
»Ich habe sie damals nicht finden können und finde sie auch jetzt nicht.«
»Was?« fragte ich.
»Unwichtig«, erwiderte er und wandte sich ab.
Von unten näherten sich die beiden Kurii. Wir beobachteten sie. Die Wesen richteten sich auf und blickten ebenfalls in die Ferne.
Dann wandten sie sich in unsere Richtung. Wir zogen unsere Waffen, und die Kurii nahmen ihre Äxte und Schilde zur Hand.
Ivar und ich sprangen von dem Felsen, auf dem wir gestanden hatten. Die beiden Kurii näherten sich von links und rechts. Sie hatten die Ohren angelegt und bewegten sich sehr vorsichtig.
Die große Axt fuhr auf mich zu. Ich rollte durch den Schnee ab und versuchte nach vorn zu hechten, um mit der Klinge zuzustoßen. Doch ich glitt aus. Die Axt bohrte sich dort in den Boden, wo ich eben noch gestanden hatte. Ein Granitbrocken traf mich schmerzhaft. Ich taumelte zurück. Der Kur ließ sich Zeit und lauerte mit erhobener Axt. Ich sah seine Augen über dem Schild. »Ha!« brüllte ich und tat, als wollte ich angreifen. Die Axt bewegte sich etwas, wurde aber nicht geschwungen. Dann schnaubte das Wesen und hob die Axt. Ich wußte, daß die Klinge mich nicht rechtzeitig erwischen konnte, und griff an. Und genau das hatte sich der Kur erhofft. Er hatte mich hereingelegt! Mit gewaltiger Kraft traf mich der schwere Schild von der Seite, schleuderte mich vierzig Fuß durch die Luft. Halb geblendet vor Schmerz rollte ich durch den Schnee. Wieder dröhnte die Axt auf Granit, und wieder traf mich der Schild wie ein Hammer. Ich richtete mich taumelnd auf. Mein linker Arm war gefühllos, vermutlich gebrochen. Meine Schulter fühlte sich wie Holz an. Und die Axt fuhr erneut hoch. Aufschreiend verlor ich das Gleichgewicht und stürzte über einen Felsabhang. Zwanzig Fuß tiefer landete ich im Schnee. Zu meiner Rechten erblickte ich eine kleine dunkle Öffnung, die etwa einen Fuß breit und hoch war. Ich taumelte darauf zu. In der Höhle ging es in gleicher Höhe weiter. »Ivar!« brüllte ich. »Ivar!« Ich hörte den Blutschrei eines Kur, den ich nicht sehen konnte. Ivar machte kehrt und sprang zu mir herunter in den Schnee. Die beiden Kurii standen wutschnaubend über uns. Ich deutete auf die Öffnung. Mit blitzenden Augen untersuchte Forkbeard meinen Fund. Ich bewegte die Finger meiner linken Hand. Ich hatte Gefühl im Arm, doch ich wußte noch nicht, ob er gebrochen oder nur geprellt war. Ich steckte das Schwert wieder in die Scheide; Ivar nickte und zwängte sich rücklings durch die schmale Öffnung. Ich folgte ihm. Forkbeard half mir, zerrte mich hinein. Im nächsten Augenblick schob sich ein langer Kur-Arm durch die Öffnung zu uns herein. Forkbeard schlug mit dem Schwert danach, und der Kur zog sich mit einem Schmerzensschrei zurück. Die beiden Ungeheuer setzten sich einige Fuß von der Höhlenöffnung entfernt in den Schnee. Kurii sind geduldige Jäger. Sie würden warten.
Ich rieb mir die Schulter und hob den linken Arm. Er war offenbar nicht gebrochen.
»Komm mit!« sagte Ivar aufgeregt.
Ich fragte mich, wie tief die enge Höhle sein mochte. Auf Händen und Füßen kroch ich hinter dem Torvaldsländer her.
»Hier!« sagte Ivar. »An der Wand!«
Er führte meine Finger zu einer Stelle an der Felswand. Ich spürte vertikale Zeichen, die rechtwinklige Verlängerungen hatten.
»Du hast sie gefunden!« rief Forkbeard. »Du hast sie gefunden!«
15
Auf allen vieren kroch ich hinter Forkbeard durch den engen Gang, wobei ich mich einmal auf die linke Seite drehen mußte, um mich durch eine schmale Öffnung zu winden. Dahinter schien mehr Platz zu sein, und ich hob vorsichtig die Hände und richtete mich auf. Ich hörte Forkbeard in der Dunkelheit herumtasten. Dann ertönte das Schlagen von zwei kleinen Stücken Eisenpyrit. Im nächsten Augenblick sprühten Funken, die in einen kleinen Haufen aus winzigen Mooszweigen fielen. Mehrere dieser Haufen, etwa fünfzehn Zentimeter hoch, lagen auf einem Felsvorsprung, daneben verschiedene Feuersteine und Stahlstücke. Ich erschauderte.
Forkbeard hatte eine Fackel gefunden, die er an das glimmende Moos hielt. Ich zog eine zweite Fackel aus einem Metallring an der Wand und stieß sie ebenfalls in die Glut.
Keiner von uns sagte etwas.
Der Gang verlor sich vor uns in der Dunkelheit. Er war etwa acht Fuß hoch und ebenso breit. Zu beiden Seiten erstreckte sich eine Reihe von Ringen mit dunklen Fackeln. Links und rechts befanden sich Buchstaben einer hohen, eckigen Schrift an den glattgemeißelten Wänden.
»Alte Runen«, sagte Ivar.
»Kannst du sie lesen?«
»Nein.«
Die Haare in meinem Nacken stellten sich auf. Ich betrachtete eine der Darstellungen. Sie zeigte einen Mann auf dem Rücken eines Vierbeiners.
»Schau mal«, sagte ich, und deutete darauf.
»Interessant. Ein Reiter auf einem Fabeltier – aber die Sage kenne ich nicht.«
Ich starrte auf das Bild. So etwas hatte ich auf Gor noch nie gesehen. Ich fragte mich, wer dieses Bild in den Fels gemeißelt hatte. Es war sehr alt. Offenbar hatte der Künstler eine Welt gekannt, von der Ivar Forkbeard keine Ahnung hatte. Das vierbeinige Wesen war eindeutig ein Pferd.
Der Gang wurde jetzt so breit, daß wir uns darin verloren vorkamen. Die Reliefs und Ornamente nahmen an Vielfalt und Farbigkeit zu. Ringsum steckten dunkle Fackeln in ihren Ringen.
»Kannst du diese Runen nicht lesen?« fragte ich Ivar.
»Ich bin doch kein Runenpriester«, erwiderte er entrüstet.
Seine Reaktion war ziemlich mürrisch. Ich wußte, daß er einige Runen zu lesen vermochte. Die Zeichen hier waren vielleicht zu alt oder entsprachen einem Dialekt, den er nicht kannte.
»Aber hier ist ein Zeichen, das jeder Dummkopf kennt.«
Auch ich hatte den Buchstaben schon oft gesehen – aber niemand hatte ihn mir bisher erklärt.
»Was bedeutet er?« fragte ich.
»Weißt du das wirklich nicht?«
Er wandte sich ab, und ich folgte ihm. Kurz darauf nahmen wir neue Fackeln von den Wandringen, entzündeten sie und löschten die alten.
Nun kamen wir an verschiedenen offenen Truhen vorbei, in denen Schätze ruhten – Münzen und Edelsteine, Ringe und Armbänder. Danach erreichten wir einen großen Torbogen, den Eingang zu einem riesigen Raum, der sich außerhalb des flackernden Lichtscheins unserer Fackeln im Dunkeln verlor.
Forkbeard deutete mit der Fackel auf das große Zeichen über dem Tor, das Zeichen, das er mir eben nicht erklärt hatte.
»Ich glaube, ich weiß, was das Zeichen bedeutet«, sagte ich.
»Und?«
»Es ist das Namenszeichen Torvalds«, sagte ich.
»Ja.«
»Torvald«, sagte ich erschaudernd, »ist doch nur eine Gestalt der Legenden. Jedes Land hat solche sagenhaften Helden und Gründer, seine mystischen Riesen.«
»Dies«, sagte Forkbeard, »ist die Kammer Torvalds. Wir haben die Ruhestätte Torvalds gefunden! Torvald schläft im Torvaldsberg, und zwar seit tausend Jahren. Er wartet darauf, geweckt zu werden. Sobald sein Land ihn braucht, wird er erwachen. Und dann wird er uns in den Kampf führen. Er wird wieder Anführer sein für die Männer des Nordens.«
»Es gibt keinen Torvald«, sagte ich.
»Wir müssen ihn wecken.«
Bekümmert blickte ich hinter Forkbeard her, der mit erhobener Fackel in die große Kammer trat. Es wollte mir nicht unmöglich erscheinen, daß die Sagen um Torvald ein Körnchen Wahrheit enthielten. Es mochte einmal einen Torvald gegeben haben, einen Mann, der vor über tausend Jahren in dieses Land gekommen war. Doch heute gab es diesen Mann nicht mehr. Es bedrückte mich, wenn ich daran dachte, welche Enttäuschung auf meinen leichtgläubigen Freund Forkbeard wartete.
Seine Hoffnung, einen sagenumwitterten Helden zu finden, der die Männer des Nordens zu den Waffen rief, um sie gegen die Kurii zu führen, mußte enttäuscht werden.
Dieser Höhlenraum, das wußte ich, war von Menschen geschaffen worden. Vielleicht handelte es sich tatsächlich um die Grabkammer Torvalds, die seit vielen Jahrhunderten vergessen war, bis jetzt zwei fliehende Männer zufällig wieder darauf stießen. Vielleicht traf es zu, daß Torvald im Torvaldsberg begraben und daß seine Grabstätte versteckt worden war, um sie vor Neugierigen und Grabräubern zu schützen. Und wenn dem so war, konnten sich wirklich Legenden darum gerankt haben, Legenden, in denen das Rätsel des verlorenen Grabes eine große Rolle spielte. Diese Geschichten waren in den langen Winternächten bestimmt immer wieder an den Feuern erzählt worden und hatten sich von Dorf zu Dorf ausgebreitet, von einem einsamen Hof zum ändern. Und in einer dieser Sagen mochte tatsächlich zum Ausdruck kommen, daß der große Torvald gar nicht tot war, sondern nur schlief und wieder erwachen würde, wenn sein Land ihn brauchte.