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Hastig warf ich eine goldene Tarnscheibe zu Boden, die als Entgelt für meine Unterkunft in Kassau und die Versorgung des Vogels gedacht war.

Der Sattel sollte zurückbleiben; doch zuvor nahm ich aus den Satteltaschen einige Besitztümer, etwas Gold und den Schlafsack aus Fell und Boskleder, ergriff den Langbogen und die vierzig Pfeile, die in einer wasserdichten Hülle steckten.

Ich blickte dem Tarn nach, der bereits am düsteren Himmel über Kassau verschwunden war. Ich bedauerte nicht, daß ich mich von dem Tier getrennt hatte. Ich hatte nun eine bessere Möglichkeit, nach Torvaldsland zu gelangen.

Ich machte kehrt und lief zum Hafen zurück.

Acht Bögen waren auf mich gerichtet; acht Pfeile lagen auf den angespannten Saiten.

»Nicht schießen!« rief Ivar Forkbeard seinen Bogenschützen zu und grinste. »Er spielt Kaissa.«

Ich warf meine Sachen ins Schiff und sprang mit dem Bogen in der Hand an Bord.

»Ablegen!« befahl Ivar Forkbeard.

Die beiden Taue wurden losgeworfen, und die Bogenschützen setzten sich zu ihren Genossen auf die Ruderbänke. Das Schlangenschiff glitt vom Pier fort und wendete im Hafenbecken. Das rotweiß gestreifte Segel wurde von der Spiere herabgelassen und öffnete sich knallend.

Zwischen den Bänken und inmitten der Beutestücke saßen die gefesselten Sklavinnen, dicht daneben Aelgifu. Ivar Forkbeard stellte sich vor seine Leibeigenen hin und blickte auf das schlanke blonde Mädchen hinab. »Anscheinend ist deine Sklaverei doch nicht ganz so kurz, wie du angenommen hast, meine Hübsche«, sagte er.

Sie senkte den Blick.

Die Männer aus Torvaldsland an den Rudern begannen zu singen.

Ivar Forkbeard kam zu mir ans Heck. Wir sahen Männer am Kai. Einige versuchten ein Küstenschiff zur Abfahrt klarzumachen, mit dem sie die Schlange verfolgen wollten. Aber der Versuch war sinnlos.

Die Torvaldsländer sangen lautstark. Die Ruder, jedes von zwei Männern bewegt, hoben sich und fuhren gleichmäßig durchs Wasser. Der Steuermann lehnte sich an sein großes Steuerruder.

Hinter uns sahen wir den Rauch des brennenden Tempels. Offenbar hatte die Feuersbrunst auf andere Gebäude Kassaus übergegriffen; der Wind schien sein unheilvolles Werk zu tun.

Die Männer am Hafen hatten inzwischen ihr Vorhaben aufgegeben und liefen in die Stadt zurück. Wir hörten die Schläge der großen Metallstange, die vor dem Tempel hing. Die Stadt brannte. Die Kassauer eilten durch die schmutzigen Straßen, um sich dieser neuen Gefahr zu stellen.

Hinter uns erklang das Schluchzen der gefesselten Frauen, die nach Norden gebracht wurden, um rauhen Kriegern zu dienen. Die Männer sangen, die Ruder hoben und senkten sich – das Boot Ivar Forkbeards verließ den Hafen von Kassau und stach in See.

4

Ivar Forkbeard beugte sich über die Bordwand seiner Schlange und betrachtete die Farbe des Wassers. Dann senkte er den Arm und schöpfte etwas Flüssigkeit.

»Wir sind noch etwa eine Tagesreise von Einars Felsenriff und dem Runenstein von Torvaldsmark entfernt«, sagte er.

»Woher weißt du das?« fragte ich.

Wir waren seit zwei Tagen auf offener See.

»Hier gibt es Plankton«, sagte Ivar, »das von den Bänken südlich von Einars Felsenriff kommen muß, außerdem verrät mir die Temperatur, daß wir nun im Torvaldstrom sind, der nach Osten zur Küste und dann nach Norden fließt.«

Der Torvaldstrom ist eine pasangbreite Strömung, deren Temperatur höher ist als die des Wassers ringsum. Ohne diesen warmen Strom lägen große Teile Torvaldslands für immer unter Eis. Torvaldsland ist ein rauhes, felsiges Land voller Klippen, Fjorde und Berge. Ackerboden, soweit überhaupt vorhanden, ist nur dünn. Die Bauernhöfe sind im Durchschnitt sehr klein. Guter Boden ist selten und wird zu hohen Preisen gehandelt. Die Verbindung zwischen den Höfen wird zumeist mit kleinen Booten über das Meer aufrechterhalten. Ohne den Torvaldstrom wäre es unmöglich, Getreide in den Mengen anzubauen, die nötig sind, um die kleine Bevölkerung des Landes zu ernähren. Auch so sind Nahrungsmittel oft knapp, besonders im nördlichen Torvaldsland, und Hungersnöte sind nicht gerade selten. Wenn es zum Schlimmsten kommt, ernähren sich die Menschen von Baumrinde, Flechten und Tang. Angesichts dieser Verhältnisse ist es nicht ungewöhnlich, daß die jungen Männer Torvaldslands ihr Glück oft auf der See und in anderen Ländern suchen. Der Torvaldstrom gilt bei den Torvaldsländern als ein Geschenk Thors an Torvald, den legendären Gründer und Helden des Landes – zum Austausch gegen einen Goldring.

Die Torvaldsländer steuern ihre Schiffe manchmal nur nach der Art und Weise, wie sich die Wellen am Bug brechen, wobei sie ihre Berechnungen auf die vorherrschenden Winde abstellen. Manchmal ziehen sie zur Navigation auch die Schatten von der Bordwand heran, die über die Ruderbänke fallen, und berechnen den Winkel. Natürlich dient auch die Sonne als Angelpunkt, und bei Nacht weisen die Sterne die Richtung.

Es ist eine Sache der Tradition, sich nicht auf den Nadelkompaß zu verlassen, wie es im Süden geschieht. Der goreanische Kompaß deutet immer auf das Sardargebirge, die Heimat der Priesterkönige. Die Torvaldsländer verwenden diesen Kompaß nicht; sie brauchen ihn auch nicht. Der Sextant jedoch, abgestellt auf Sonne und Sterne, ist ihnen nicht unbekannt. Allerdings verwenden sie ihn nur in fremden Gewässern. Auch typische Nebelbänke und die Tummel- und Paarungsplätze der Wale werden in bekannten Gebieten zur Orientierung benutzt; die Torvaldsländer machen sich solche Dinge fast unbewußt zunutze.

Die Schiffe der Torvaldsländer sind sehr schnell. An einem vollen goreanischen Tag von zwanzig Ahn können sie bei gutem Wind zwischen zweihundert und zweihundertundfünfzig Pasang zurücklegen.

Ich betrachtete das Brett vor mir. Es war ein Spielbrett zur Verwendung auf dem Meer, bei den Torvaldsländern sehr verbreitet. In der Mitte jedes Felds befand sich ein winziger Pflock; die Spielsteine wiesen entsprechende Löcher auf. So kann bei Wellengang nichts verrutschen. Das Brett ist in rote und gelbe Quadrate unterteilt. Das Kaissa der Torvaldsländer hat eine große Ähnlichkeit mit dem Spiel des Südens, wenn auch bestimmte Figuren anders sind. So gibt es keinen Ubar, sondern einen Jarl – der wichtigste Stein. Und es gibt keine Ubara, sondern dafür die Frau des Jarls, die im Spiel eine große Bedeutung gewinnt, mehr noch als die Ubara des Südens. Anstelle von Tarnkämpfern spielen zwei Figuren, die Äxte genannt werden. Das Spiel kennt ferner keine Wissenden, sondern entsprechende Figuren mit dem Namen Runenpriester. Außerdem fehlen die Schriftgelehrten, die hier Sänger heißen. Die Speerträger entsprachen allerdings der südlichen Bezeichnung. Ich brauchte nicht lange, um mich an das Kaissa Torvaldslands zu gewöhnen dennoch verlor ich die beiden ersten Spiele gegen Forkbeard. Interessanterweise war er begierig, mich mit dem Spiel bekannt zu machen, und gab mir ausführliche Erklärungen und Ratschläge. Offenbar wollte er, daß ich möglichst bald mit voller Kraft und ohne Handicap gegen ihn antreten konnte. Beim dritten Spiel hatte ich ihn geschlagen, und entzückt hatte er seinen Unterricht eingestellt – und nun spielten wir wieder.

Das Spiel Forkbeards war viel nuancierter und taktisch ausgefeilter als etwa das Spiel Marlenus' aus Ar – zugleich auch viel hinterlistiger. Forkbeard baute zahlreiche Finten und Ablenkungen und Doppelstrategien ein, wobei viele seiner Angriffe auf zwei Seiten vorgetragen wurden – ein offener Angriff und ein heimlicher Vorstoß, wobei meistens ein Trick gelang. Zu Anfang hatte ich Forkbeard behutsam bekämpft und mich mit seinen Strategien vertraut gemacht. Als ich ihn besser zu kennen glaubte, spielte ich offener. Seine raffiniertesten Tricks, das wußte ich, würde er nur selten einsetzen; bestimmt hob er sie für wichtigere Spiele auf oder vielleicht für Gegner aus Torvaldsland, wo das Kaissa mehr noch als im Süden ein Volkssport ist. In den langen Winterperioden dieses Landes, wenn Schnee, Dunkelheit, Eis, Winterwinde und Frost die Außenwelt beherrschen, wenn sich die Schlangenschiffe in ihren geschlossenen Schuppen verstecken, vergehen viele Stunden unter schwingenden Specksteinlampen voller See-Sleen-Öl mit dem Kaissaspiel.