»Oma, Opa!« schluchzte David Lustig. »Ihr seht ja prima aus, so prima!« Er umarmte sie, drehte sie herum, küßte sie, drückte sie an sich, weinte mit ihnen, hielt sie wieder von sich ab und betrachtete die beiden Alten mit feuchten Augen. Die Sonne schien am Himmel, der Wind wehte, das Gras war grün, und die Gazetür stand weit offen.
»Komm doch rein, Junge. Wir haben frischen geeisten Tee für dich, massenweise!«
»Ich habe zwei Freunde mitgebracht.« Lustig wandte sich lachend um und winkte den Kapitän und Hinkston zu sich. »Kapitän, kommen Sie.«
»Willkommen«, sagten die beiden alten Leute. »Treten Sie ein. Die Freunde von David sind auch unsere Freunde. Stehen Sie nicht draußen herum!«
Im Wohnzimmer des alten Hauses war es kühl; eine alte Standuhr tickte metallisch langsam in einer Ecke. Weiche Kissen lagen auf großen Sofas herum, die Wände waren voller Bücher und ein Teppich in der Form einer riesigen Rose bedeckte den Boden. Der geeiste Tee wurde in kalten schwitzenden Gläsern serviert; er schmeckte angenehm kühl auf der durstigen Zunge.
»Auf unsere Gesundheit.« Die Großmutter hob das Glas an ihre blitzenden Zähne.
»Wie lange seid ihr schon hier, Oma?« fragte Lustig.
»Seit unserem Tode.«
»Seit was?.« Kapitän John Black setzte abrupt sein Glas ab.
»O ja.« Lustig nickte. »Sie sind seit dreißig Jahren tot.«
»Und dann sitzen Sie hier so ganz ruhig herum!« rief der Kapitän entgeistert.
»Aber, aber.« Die alte Frau sah ihn mit blitzenden Augen an. »Warum wollen Sie Fragen stellen? Wir existieren. Was bedeutet schon das Leben? Was, warum, wo - das hat keine Bedeutung.
Wir wissen nur, daß wir existieren und wieder leben, und wir stellen keine Fragen. Eine zweite Chance.« Sie kam vorsichtig näher und streckte ihr dünnes Handgelenk aus. »Fassen Sie mal an.« Der Kapitän ergriff es zögernd. »Fest, nicht wahr?« fragte sie. Er nickte. »Also«, sagte sie triumphierend, »warum dann Fragen stellen?«
»Na ja«, sagte der Kapitän, »es ist nur, wir hätten nie gedacht, hier auf dem Mars so etwas zu finden.«
»Und jetzt haben Sie’s gefunden. Ich wage zu behaupten, daß es auf allen Planeten Dinge gibt, die uns Gottes unvorstellbare Wege offenbaren.« »Ist das hier der Himmel?« fragte Hinkston.
»Unsinn. Es ist eine Welt, und wir haben hier eine zweite Chance. Den Grund dafür hat uns niemand gesagt. Aber es hat uns auch niemand verraten, warum wir auf der Erde waren. Die andere Erde, meine ich. Die Erde, von der Sie gekommen sind. Wie wollen wir wissen, ob es nicht auch davor schon eine andere Welt gegeben hat?«
»Eine interessante Frage«, sagte der Kapitän.
Lustig lächelte seine Großeltern an. »Himmel, es ist so toll, euch wiederzusehen, einfach großartig!«
Der Kapitän stand auf und schlug sich beiläufig mit der Hand ans Bein. »Wir müssen weiter. Vielen Dank für die Erfrischung.«
»Sie kommen natürlich wieder«, sagten die alten Leute. »Zum Abendessen, ja?«
»Wir wollen es versuchen, vielen Dank. Es gibt so viel zu tun. Meine Männer warten drüben in der Rakete auf mich, und.«
Er unterbrach sich und starrte verblüfft zur Tür.
Weit entfernt draußen im Sonnenlicht waren Stimmen zu hören, dann ein lautes Hallo.
»Was ist das?« fragte Hinkston.
»Stellen wir gleich mal fest.« Kapitän John Black eilte zur Tür und rannte über den grünen Rasen auf die Straße hinaus.
Er sah zur Rakete hinüber. Dort standen alle Schotts offen, und seine Mannschaft strömte winkend heraus. Zahlreiche Menschen hatten sich versammelt, und seine Männer eilten in die Menge und redeten und lachten und schüttelten Hände. Die Rakete blieb leer und verlassen zurück.
Eine Blaskapelle explodierte im Sonnenlicht und schmetterte ein fröhliches Lied aus Baßtuben und Trompeten. Trommeln dröhnten und Pfeifen schrillten. Kleine Mädchen mit goldenem Haar hüpften aufgeregt auf der Stelle. Kleine Jungen brüllten »Hurra!« Dicke Männer teilten Zehn-Cent-Zigarren aus. Der Bürgermeister hielt eine Rede. Und dann wurden die Mannschaftsmitglieder, flankiert von Eltern oder Geschwistern, die Straße hinabgeführt und verschwanden in kleinen Villen oder großen Häusern.
»Halt!« rief Kapitän Black.
Die Türen wurden zugeschlagen.
Die Hitze stieg in den klaren Frühlingshimmel, und es war wieder still. Die Blaskapelle verschwand lärmend um eine Ecke und ließ die Rakete einsam blitzend und schimmernd zurück.
»Verlassen!« sagte der Kapitän. »Sie haben das Schiff tatsächlich verlassen! Das kostet sie den Kopf, bei Gott! Sie hatten ihre Befehle!«
»Sir«, sagte Lustig, »seien Sie nicht so streng mit ihnen. Sie haben Verwandte und Freunde wiedergetroffen.«
»Das ist keine Entschuldigung!«
»Überlegen Sie doch, wie ihnen zumute gewesen sein muß, als sie draußen vor dem Schiff all die vertrauten Gesichter sahen!«
»Verdammt, sie hatten aber ihre Befehle!«
»Wie wäre es Ihnen selbst ergangen, Kapitän?«
»Ich hätte die Befehle befolgt.« Dem Kapitän blieb der Mund offenstehen.
Auf dem Bürgersteig unter der marsianischen Sonne kam ein junger, etwa sechsundzwanzigjähriger Mann auf ihn zu, groß, lächelnd, mit erstaunlich hellblauen Augen. »John!« rief der Mann und begann zu laufen.
»Was?« Kapitän John Black schwankte.
»John, alter Schurke!«
Der Mann kam heran, ergriff seine Hand und schlug ihm auf die Schulter.
»Bist du es wirklich?« fragte Kapitän Black.
»Natürlich, wer sonst?«
»Edward!« Der Kapitän, der noch immer die Hand des Fremden umklammert hielt, wandte sich an Lustig und Hinkston. »Das ist mein Bruder Edward. Ed, das sind zwei von meinen Leuten, Lustig und Hinkston. Mein Bruder!«
Sie klopften einander auf die Schulter, drückten sich die Hände und umarmten sich schließlich. »Ed!« - »John, alter Knabe!« - »Du siehst prächtig aus, Ed, aber was geht hier eigentlich vor? Du hast dich in all den Jahren überhaupt nicht verändert. Ich weiß noch, du bist mit sechsundzwanzig gestorben; damals war ich neunzehn. Himmel, so viele Jahre ist das her, und da stehst du plötzlich vor mir. Mein Gott, was geht hier vor?«
»Mama wartet«, sagte Edward Black lächelnd.
»Mama?«
»Und Paps natürlich auch.« »Paps?« Der Kapitän zuckte wie unter einem Hammerschlag zusammen. Seine Bewegungen bekamen mit einemmal etwas Steifes, Unkontrolliertes. »Mama und Paps leben hier? Wo?«
»Im alten Haus an der Oak Knoll Avenue.«
»Das alte Haus.« Der Kapitän blickte in entzücktem Staunen um sich. »Lustig, Hinkston, haben Sie das gehört?«
Aber Hinkston war schon verschwunden. Er hatte weiter unten an der Straße das Haus seiner Familie entdeckt und lief darauf zu. Lustig lachte: »Merken Sie jetzt, Kapitän, was mit den Jungs in der Rakete passiert ist? Sie konnten einfach nicht anders.«
»Ja, ja.« Der Kapitän kniff die Augen zusammen. »Wenn ich jetzt die Augen wieder aufmache, bist du verschwunden.« Er blinzelte. »Du bist immer noch da. Himmel, Ed, wie gut du aussiehst!«
»Komm, das Mittagessen wartet. Ich habe Mama schon Bescheid gegeben.«
Lustig sagte: »Sir, wenn Sie mich brauchen, bin ich bei meinen Großeltern.«
»Was? O ja, natürlich, Lustig. Dann bis später.«
Edward nahm seinen Arm und zog ihn mit sich. »Da ist das Haus. Erinnerst du dich?«
»Und ob! Wetten, daß ich’s als erster zur Veranda schaffe?«
Sie rannten los. Die Bäume brausten über Kapitän Blacks Kopf dahin, die Erde dröhnte ihm unter den Füßen. Wie in einem erstaunlich wirklichkeitsnahen Traum sah er Edwards leuchtende Gestalt an sich vorbeiziehen. Er sah das Haus auf sich zukommen, dessen Tür weit geöffnet war.
»Gewonnen!« rief Edward.
»Ich bin ja auch ein alter Mann«, sagte der Kapitän schweratmend, »und du bist immer noch jung. Aber erinnerst du dich - du hast mich sowieso immer geschlagen!«