Auf der Schwelle stand Mama, rosa, drall, strahlend. Hinter ihr, pfeffergrau, wartete Paps, die Pfeife in der Hand.
»Mama! Paps!«
Wie ein Kind rannte er die Stufen hoch.
Es war ein herrlicher langer Nachmittag. Nach dem späten Mittagessen saßen sie im Wohnzimmer, und er erzählte ihnen von seiner Rakete, und sie nickten und lächelten, und Mutter hatte sich überhaupt nicht verändert, und Paps biß wie früher das Ende seiner Zigarre ab und zündete sie nachdenklich an. Am Abend gab es Truthahn, und die Zeit verströmte nur so. Als die Schenkelknochen blankgenagt auf den Tellern lagen, lehnte sich der Kapitän zurück und seufzte befriedigt. Die Nacht hing in den Bäumen und färbte den Himmel, und die Lampen bildeten rosafarbene Lichthöfe im stillen Haus. Aus den anderen Häusern entlang der Straße tönte Türenschlagen und Lachen und Klavierspiel herüber.
Mama legte eine Platte auf die Victrola, und sie und Kapitän John Black tanzten. Sie hatte noch das gleiche Parfüm wie damals in dem Sommer, als sie und Paps bei einem Zugunglück ums Leben kamen. Sie fühlte sich sehr wirklich an in seinen Armen und sie tanzten langsam im Takt der Musik. »Nicht jeden Tag«, sagte sie, »bekommt man eine zweite Chance zu leben.«
»Ich wache bestimmt morgen auf«, sagte der Kapitän, »und bin wieder in meiner Rakete, draußen im All - und das alles ist verschwunden.«
»Nein, das darfst du nicht glauben«, flehte sie leise. »Stell keine Fragen. Gott ist gut zu uns. Akzeptieren wir das Glück, das er uns schenkt.«
»Es tut mir leid, Mama.«
Die Melodie auf der Schallplatte ging mit kreiselndem Zischen zu Ende.
»Du bist bestimmt müde, mein Sohn.« Paps deutete mit der Pfeife nach oben. »Dein altes Zimmer wartet auf dich - auch dein Messingbett ist noch da.«
»Aber ich müßte meine Leute zusammentrommeln.«
»Warum?«
»Warum? Na ja, ich weiß nicht. Ist vielleicht nicht nötig. Ja, du hast recht. Sie essen wohl gerade oder sind schon im Bett. Es wird ihnen gut tun, wenn sie sich einmal richtig ausschlafen können.«
»Gute Nacht, mein Sohn.« Mama gab ihm einen Kuß auf die Wange. »Es ist schön, daß du wieder zu Hause bist.«
»Es ist schön, wieder zu Hause zu sein.«
Er verließ das Land des Zigarrenrauchs und Parfüms, das Land der Bücher und des weichen Lichts und ging im Gespräch mit Edward nach oben. Edward stieß eine Tür auf - und da waren das gelbe Messingbett und die alten Wimpel von der Universität und ein sehr verstaubter Waschbärenmantel, den er liebevoll betastete. »Das ist einfach zuviel«, sagte der Kapitän. »Ich bin betäubt und müde. Zuviel ist heute passiert. Es kommt mir vor, als wäre ich schon achtundvierzig Stunden in strömendem Regen ohne Schirm unterwegs. Ich bin bis auf die Haut mit Gefühlen durchtränkt.«
Edward schlug das schimmernd weiße Bett auf und beklopfte die Kissen. Er schob das Fenster hoch und ließ den nächtlichen Jasminduft herein. Draußen war Mondschein und leise Tanzmusik und Flüstern.
»Das ist also der Mars«, sagte der Kapitän während des Ausziehens.
»Das ist er.« Mit langsamen, abgewogenen Bewegungen folgte Edward seinem Beispiel; er zog sich das Hemd über den Kopf und enthüllte goldene Schultern und einen ausgeprägten, muskulösen Hals.
Das Licht war gelöscht; sie lagen nebeneinander im Bett wie in den guten alten Tagen. Vor wie vielen Jahrzehnten war das gewesen? Der Kapitän träumte vor sich hin und ließ den Jasminduft auf sich einwirken, der die Spitzenvorhänge in die dunkle Luft des Zimmers wölbte. Zwischen den Bäumen, irgendwo auf einem Rasen, hatte jemand einen tragbaren Fonographen in Betrieb gesetzt, der leise >Immer< spielte.
Da mußte er an Marilyn denken.
»Ist Marilyn hier?«
Sein Bruder, der ausgestreckt im Mondlicht, das zum Fenster hereinfiel, neben ihm lag, antwortete nicht sofort. Schließlich sagte er: »Ja. Sie ist nur nicht in der Stadt, sie kommt morgen früh.«
Der Kapitän schloß die Augen. »Ich möchte Marilyn sehr gern wiedersehen.«
Jetzt waren nur noch die Atemzüge der Männer zu hören.
»Gute Nacht, Ed.«
Eine Pause. »Gute Nacht, John.«
Entspannt lag er im Bett und ließ seine Gedanken wandern. Zum erstenmal streifte er die Anspannungen des Tages ab; er konnte wieder logisch denken. Eine große Gefühlsduselei war das gewesen heute. Die Kapelle, die bekannten Gesichter. Doch jetzt.
Wie nur? fragte er sich. Wie wurde das alles bewirkt? Und warum? Zu welchem Zweck? War hier irgendeine überirdische Güte am Werk? War Gott wirklich so fürsorglich? Wie und warum denn nur?
Er überdachte die verschiedenen Theorien, die Hinkston und Lustig in der ersten Hitze des Nachmittags geäußert hatten. Alle möglichen Theorien ließ er wie Kiesel durch seinen Geist fallen und im Drehen kleine gedämpfte Lichtblitze ausstrahlen. Mama. Paps. Edward. Erde. Mars. Marsianer.
Wer hatte vor tausend Jahren hier auf dem Mars gelebt? Oder war der Planet schon immer so gewesen?
Marsianer. Lautlos und langsam sagte er das Wort noch einmal vor sich hin. Fast hätte er laut aufgelacht, denn plötzlich war ihm eine ganz lächerliche Theorie eingefallen, die ihn mit merkwürdiger Kälte erfüllte. Nichts wirklich Greifbares, natürlich. Höchst unwahrscheinlich sogar. Blödsinnig. Vergiß das wieder. Lächerlich.
Aber, dachte er, wenn nun doch... Nimm einmal an, daß tatsächlich Marsianer auf dem Mars lebten, die unser Schiff kommen sahen und die uns darin sahen und die uns haßten. Nimm einmal an, einfach nur so, daß sie uns vernichten wollten, als Invasoren, als unerwünschte Eindringlinge, und daß sie es ganz geschickt anstellen wollten, damit wir nichts merkten. Und was war die beste Waffe eines Marsianers gegen Menschen von der Erde, die Atomwaffen mit sich führten?
Die Antwort war sehr interessant: Telepathie. Hypnose, Erinnerungen und Fantasie.
Nimm einmal an, all diese Häuser sind gar nicht wirklich vorhanden, ebensowenig wie dieses Bett - nimm einmal an, das alles hier sind nur Fantasieprodukte, denen die Marsianer durch Hypnose scheinbar Substanz verliehen haben. Nimm einmal an, diese Häuser besitzen in Wirklichkeit eine andere Form, irgendeine marsianische Form, und die Marsianer haben ihrer Siedlung - meinen Sehnsüchten und Wünschen folgend - das Gesicht meiner alten Heimatstadt gegeben und mein altes Haus wiedererstehen lassen, damit ich nicht mißtrauisch werde. Wie könnte man einen Mann besser übertölpeln, als durch seine eigene Mutter und seinen eigenen Vater, die man ihm als Köder hinhielt?
Und die Stadt, so alt, aus dem Jahr 1926 - älter als alle meine Männer. Aus einem Jahr, in dem ich sechs war und es tatsächlich Aufnahmen von Harry Lauder gab und Bilder von Maxwell Parrish an den Wänden, und Schnurvorhänge und >Schönes Ohio< und Architektur der Jahrhundertwende. Wenn nun die Marsianer die Erinnerungen an eine Stadt ausschließlich von mir übernommen hätten? Es heißt ja, daß Kindheitserinnerungen stets sehr deutlich sind. Und als sie dann die Stadt aus meinem Gedächtnis erbaut hatten, bevölkerten sie sie mit den liebsten Angehörigen aus den Erinnerungen der Männer in der Rakete!
Und wenn nun die beiden Leute nebenan gar nicht mein Vater und meine Mutter wären, sondern zwei Marsianer, die mich unglaublich geschickt in meiner Traumhypnose halten können!
Und diese Blaskapelle! Was für ein verblüffender, wunderbarer Plan das wäre! Zuerst Lustig täuschen, dann Hinkston, dann eine Menschenmenge zusammenrufen, woraufhin seine Männer beim Anblick von Müttern, Tanten, Onkeln und Freundinnen, die schon zehn, zwanzig Jahre tot waren, natürlich sämtliche Befehle mißachteten und eiligst das Schiff verließen. Was wäre natürlicher? Was schiene harmloser? Was wäre wirkungsvoller? Ein Mann stellt keine kritischen Fragen, wenn seine Mutter plötzlich wieder ins Leben tritt; er ist viel zu glücklich darüber. Und da liegen wir nun heute nacht, dachte er, einzeln, jeder in einem anderen Haus, in einem anderen Bett, waffenlos, schutzlos, und die Rakete steht leer im Mondlicht. Wäre es nicht eine entsetzliche Entdeckung, wenn all das zu einem teuflischen Plan der Marsianer gehörte, uns zu zerstreuen und zu überwältigen und zu töten? Irgendwann in der Nacht wird sich mein Bruder dort vielleicht verändern, sein menschlicher Körper wird sich auflösen, zu etwas anderem werden, zu etwas Entsetzlichem - zu einem Marsianer. Es wäre dann ein leichtes für ihn, sich im Bett herumzudrehen und mich zu erstechen. Und in den anderen Häusern an der Straße verändert sich ein Dutzend anderer Brüder oder Väter und nimmt Messer zur Hand und tut den ahnungslosen Schlafenden Böses an.