»He!« brüllte Biggs hochaufgerichtet, die Hände als Schalltrichter um den Mund gelegt. »He, ihr Leute da in der Stadt!«
»Biggs!« sagte der Kapitän.
Biggs verstummte.
Sie gingen eine gepflasterte Straße entlang. Sie flüsterten nur noch, denn es war, als würden sie eine gewaltige offene Bibliothek oder ein Mausoleum betreten, in dem nur der Wind am Leben war und über dem die Sterne leuchteten. Der Kapitän sprach leise. Er überlegte, was aus den Einwohnern geworden sein mochte und wie sie wohl gewesen waren und welche Könige sie gehabt hatten und wie sie gestorben waren. Und er stellte leise die Frage, wie sie diese Stadt hatten bauen können, die so lange Zeit erhalten geblieben war, und ob sie wohl jemals zur Erde vorgedrungen waren. Waren sie vielleicht vor zehntausend Jahren die Vorfahren von Erdmenschen gewesen? Und hatten sie ähnlich geliebt und gehaßt wie wir und ähnlich dumme Dinge getan, wenn solche Dinge getan werden?
Niemand bewegte sich. Der Mondschein umfing sie und hielt sie gefangen; der Wind strich leise an ihnen vorbei.
»Lord Byron«, sagte Jeff Spender.
»Lord wer?« Der Kapitän drehte sich um und sah ihn an.
»Lord Byron, ein Dichter des neunzehnten Jahrhunderts. Er hat vor langer Zeit ein Gedicht geschrieben, das zu dieser Stadt paßt und dazu, wie den Marsianern jetzt zumute sein muß, wenn überhaupt noch welche am Leben sind. Die Verse könnten fast vom letzten marsianischen Dichter stammen.«
Die Männer standen reglos auf ihren Schatten.
Der Kapitän sagte: »Und wie lautet das Gedicht, Spender?«
Spender geriet in Bewegung und streckte den Arm aus, als müsse er in sein Gedächtnis greifen, um die Worte einzufangen; dann kam die Erinnerung, und mit leiser Stimme sagte er langsam die Verse auf, und die Männer lauschten:
Die Stadt war grau und reglos und ragte hoch auf. Die Gesichter der Männer waren dem Licht zugewandt.
Stumm standen die Erdenmenschen im Zentrum der Stadt. Es war eine klare Nacht. Kein Geräusch war zu hören außer dem Säuseln des Windes. Zu ihren Füßen erstreckte sich ein mit Mosaiken geschmückter Hof mit den Darstellungen seltsamer Tiere und Gestalten. Sie schauten darauf hinab.
Biggs stieß einen erstickten Laut aus. Seine Augen waren stumpf. Er hob die Hände an den Mund, würgte, schloß die Augen, beugte sich vor, und ein Schwall dicker Flüssigkeit schoß ihm in den Mund, strömte heraus, spritzte auf die Steine und besudelte die Kunstwerke. Zweimal brach es aus Biggs hervor. Ein scharfer saurer Geruch erfüllte die kühle Luft.
Niemand half Biggs, der sich immer wieder übergab.
Spender sah einen Augenblick lang zu. Dann wandte er sich um und entfernte sich in die Straßen der Stadt, allein im Mondlicht. Er drehte sich nicht um.
Sie kehrten um vier Uhr morgens zurück. Sie lagen auf Decken und schlossen die Augen und atmeten die stille Luft ein. Kapitän Wilder saß am Feuer und hielt es mit kleinen Holzstücken am Leben.
Zwei Stunden später öffnete McClure die Augen. »Wollen Sie nicht schlafen, Sir?«
»Ich warte auf Spender.« Der Kapitän lächelte schwach.
McClure überlegte. »Wissen Sie, Sir, ich glaube nicht, daß er überhaupt wiederkommt. Ich weiß nicht, woher ich das weiß, aber ich habe so ein merkwürdiges Gefühl, Sir; er kommt nicht wieder.«
McClure wälzte sich herum und schlief wieder ein. Das Feuer loderte kurz auf und erstarb.
Eine Woche verging, und Spender war nicht wiedergekommen. Der Kapitän schickte Suchtrupps aus, die jedoch zurückkehrten und sagten, sie wüßten nicht, wohin Spender verschwunden sein könnte. Er würde schon zurückkommen, wenn er dazu bereit wäre. Er sei sowieso ein Querkopf, sagten sie, ein chronischer Nörgler. Zur Hölle mit ihm!
Der Kapitän sagte nichts, trug jedoch alles in sein Logbuch ein.
Es war ein Morgen, der ein Montag oder Dienstag oder irgendein Tag hätte sein können. Biggs saß am Rand des Kanals und ließ die Füße ins kühle Wasser hängen, während er sein Gesicht der Sonne entgegenreckte.
Ein Mann kam das Ufer entlanggewandert und auf ihn zu, schließlich blieb der Mann stehen und warf seinen Schatten auf Biggs. Biggs blickte auf.
»Da soll mich doch.!« sagte Biggs.
»Ich bin der letzte Marsianer«, sagte der Mann und zog seine Waffe.
»Was hast du gesagt?« fragte Biggs.
»Ich bringe dich um.«
»Laß das. Was sollen diese Scherze, Spender?«
»Steh auf!«
»Um Himmels willen, steck die Kanone weg.«
Spender drückte nur einmal ab. Biggs saß noch einen Augenblick lang reglos da, ehe er vornüber kippte und ins Wasser fiel. Die Waffe hatte nur ein flüsterndes Summen ausgestoßen. Die Leiche trieb in der gleichgültig langsamen Kanalströmung. Sie machte ein hohles, gurgelndes Geräusch, das sofort wieder erstarb.
Spender steckte die Waffe wieder in den Halfter und ging lautlos weiter. Die Sonne schien auf den Mars herab. Er spürte, wie ihre Strahlen auf seinen Handrücken brannten und über seine Wangen glitten. Er rannte nicht; er ging langsam, als ob nichts Ungewöhnliches geschehen wäre. Er ging zur Rakete hinab, wo unter einem vom Koch errichteten Sonnenschutz einige Männer beim Frühstück saßen.
»Da kommt ja unser einsamer Wanderer«, sagte jemand.
»Hallo, Spender, lange nicht gesehen!«
Die vier Männer am Tisch betrachteten den schweigsamen Mann, der ihre Blicke erwiderte.
»Du und deine verdammten Ruinen«, lachte der Koch und rührte etwas Schwarzes in einem Krug. »Du stellst dich an wie ein Hund mit seinen vergrabenen Knochen.«
»Vielleicht«, sagte Spender, »habe ich dieses oder jenes herausgefunden. Was würdet ihr sagen, wenn ich euch versicherte, auf einen Marsianer gestoßen zu sein?«
Die vier Männer legten ihre Gabeln hin.
»Tatsächlich? Wo denn?«
»Lassen wir das. Ich möchte euch eine Frage stellen. Wie wäre euch als Marsianer zumute, wenn fremde Leute in euer Land eindrängen und es umzukrempeln begännen?«
»Das weiß ich genau«, sagte Cherokee. »Ich habe etwas CherokeeBlut in den Adern. Mein Großvater hat mir viel über das OklahomaGebiet erzählt. Wenn es da draußen wirklich einen Marsianer gibt, hat er mein volles Mitgefühl.«
»Und ihr anderen?« fragte Spender gespannt.
Niemand antwortete; das Schweigen war Antwort genug. Catch as catch can, greif zu, solange der Vorrat reicht, wenn dir jemand die Wange hinhält, schlag zu, und so weiter.
»Nun«, sagte Spender, »ich habe tatsächlich einen Marsianer gefünden.«
Die Männer starrten ihn aus zusammengekniffenen Augen an.
»Ganz oben in einer toten Stadt. Ich hätt’s nicht für möglich gehalten. Ich habe nicht nach ihm gesucht. Ich weiß auch nicht, was er da wollte. Ich hatte etwa eine Woche in einem kleinen Tal gelebt und lernte, die alten Bücher zu lesen und die alten Kunstwerke zu betrachten. Und eines Tages sah ich den Marsianer. Er stand einen Moment da und war gleich darauf wieder verschwunden. Erst am nächsten Tag kam er zurück. Ich saß da und beschäftigte mich mit der alten Schrift, und da kam der Marsianer und rückte mir jedesmal ein Stückchen näher. Und an dem Tag, da ich die marsianische Sprache endlich entziffern konnte -es ist übrigens erstaunlich einfach, und man hat Bilddarstellungen zur Hilfe -, erschien der Marsianer vor mir und sagte: >Gib mir deine Uniform und deine übrige Kleidung.< Und ich gab ihm alles, und dann sagte er: >Gib mir deine Waffe<, und ich gab ihm meine Waffe. Dann sagte er: Jetzt komm mit und sieh zu, was passiert.< Und der Marsianer ging geradewegs hierher ins Lager und ist jetzt hier.«