»Ich habe unterirdische Gänge und ein Plätzchen zum Leben gefunden, das Sie niemals aufspüren werden. Ich ziehe mich für einige Wochen dorthin zurück, bis Ihre Aufmerksamkeit erlahmt. Dann komme ich wieder und nehme Sie aufs Korn - einen nach dem anderen.«
Der Kapitän nickte. »Erzählen Sie mir von Ihrer Zivilisation hier«, sagte er und machte eine Handbewegung, die die Bergstädte umfaßte.
»Sie verstanden es, mit der Natur zu leben und auszukommen. Sie wollten nicht um jeden Preis nur Menschen sein und keine Tiere. Das war unser Fehler bei Darwins Auftauchen. Wir hießen ihn und Huxley und Freud begeistert willkommen. Und dann stellten wir fest, daß Darwins Lehre sich nicht mit unseren Religionen vertrug. Oder zumindest glaubten wir, daß das so wäre. Wir waren töricht. Wir versuchten Darwin und Huxley und Freud zur Seite zu schieben. Aber sie wollten sich nicht mehr recht entfernen lassen. Wie die Idioten versuchten wir also, die Religion vom Sockel zu stoßen.
Das gelang uns ziemlich gut. Wir verloren unseren Glauben und gingen mit der Frage hausieren, was das Leben für einen Sinn hätte. Wenn die Kunst nur ein frustrierter Ausdruck der Sehnsucht, wenn die Religion nur Selbsttäuschung war - welchen Sinn hatte dann das Leben? Der Glaube hatte uns stets auf alles Antwort gegeben. Mit Freud und Darwin wurde das fortgespült. Wir waren und sind ein verlorenes Volk.«
»Und die Marsianer sind ein gefundenes Volk?« wollte der Kapitän wissen.
»Ja. Sie wußten Wissenschaft und Religion so miteinander zu verbinden, daß sie nebeneinander wirkten, daß sie sich nicht gegenseitig in Zweifel stürzten, sondern stärkten.«
»Das müßte ja ein idealer Zustand sein.«
»War es auch. Ich würde Ihnen gern zeigen, wie die Marsianer das vollbracht haben.«
»Meine Männer warten.«
»Wir sind in einer halben Stunde zurück. Geben Sie ihnen Bescheid, Sir.«
Der Kapitän zögerte. Dann stand er auf und rief einen Befehl hinab.
Spender führte ihn in ein kleines marsianisches Dorf aus kühlem, makellosem Marmor. Großartige Friese erstreckten sich überall an den Wänden - Friese mit schönen Tieren, weißpfotigen Katzenwesen und gelbgefächerten Sonnensymbolen - überall Standbilder von stierähnlichen Wesen und von Männern und Frauen und riesigen, wohlgestalteten Hunden.
»Da haben Sie Ihre Antwort, Kapitän.«
»Ich verstehe nicht...«
»Die Marsianer fanden das Geheimnis des Lebens bei den Tieren. Das Tier stellt das Leben nicht in Frage. Es lebt einfach. Sein ursächlicher Lebensgrund ist das Leben selbst; es genießt und liebt das Leben. Verstehen Sie - die Standbildsymbole, die tierischen Symbole, überall.«
»Kommt mir eher heidnisch vor.«
»Im Gegenteil, es handelt sich um Gottessymbole, um Symbole des Lebens. Auch auf dem Mars war der Mensch zu sehr Mensch geworden und nicht genug Tier. Und die Marsmenschen erkannten, daß sie, wenn sie überleben wollten, jene eine Frage nicht mehr stellen durften: Warum leben wir? Eine Frage, auf die das Leben selbst die Antwort war. Leben hieß, ein möglichst gutes Leben zu leben und weiteres Leben hervorzubringen. Die Marsianer erkannten, daß sie sich die Frage >Warum leben wir überhaupt?< vor allem in einer Periode des Krieges und der Verzweiflung stellten - zu einer Zeit, da es keine Antwort gab. Aber als die Zivilisation wieder zur Ruhe gekommen und der Krieg beendet war, wurde die Frage auf andere Art sinnlos. Das Leben war jetzt etwas Gutes und machte Diskussionen unnötig.«
»Danach scheint es, als waren die Marsianer ziemlich naiv.«
»Nur wenn die Naivität von Vorteil war. Sie hatten es aufgegeben, unbedingt alles vernichten, alles in den Schmutz ziehen zu wollen. Sie verschmolzen Religion und Kunst und Wissenschaft miteinander, weil die Wissenschaft im Grunde nur die Erkundung eines Wunders ist, das wir uns niemals völlig erklären können, und weil in der Kunst eine Interpretation dieses Wunders zu sehen ist. Sie ließen es nicht zu, daß die Wissenschaft das Ästhetische und Schöne erdrückte. Und das ist nichts weiter als eine Sache des rechten Maßes. Ein Erdenmensch denkt: >Auf diesem Bild gibt es in Wirklichkeit keine Farbe. Ein Wissenschaftler kann beweisen, daß Farbe nur aus einer bestimmten Beschaffenheit der Zellen an der Oberfläche des Materials resultiert, welches das Licht reflektiert. Deshalb ist die Farbe nicht wirklich ein Teil der Dinge, die ich sehe.< Ein Marsianer - und das ist viel klüger -würde sagen: >Ein schönes Bild. Der Geist und die Hand eines beseelten Mannes haben es geschaffen. Seine Idee und die Farben entsprechen dem Leben. Dies Ding ist gut<.«
Es entstand eine Pause. Unter der prallen Nachmittagssonne sah sich der Kapitän neugierig in der kleinen, stillen, kühlen Stadt um.
»Ich würde gern hier wohnen«, sagte er.
»Das können Sie, wenn Sie wollen.«
»Ausgerechnet mich fordern Sie dazu auf?«
»Würde einer von Ihren Männern das alles jemals wirklich begreifen? Die Burschen sind Zyniker von Beruf, und an ihnen ist Hopfen und Malz verloren. Warum wollen Sie mit ihnen zurückfliegen? Um den anderen zu zeigen, was Sie geschafft haben? Damit Sie sich wie die Smiths einen Gyro kaufen können? Um Musik zu hören mit ihrer Brieftasche? Da hinten ist ein kleiner Hof mit einer Spule marsianischer Musik, die mindestens fünfzigtausend Jahre alt ist. Man kann die Aufnahme noch abspielen. Musik, wie Sie sie in Ihrem ganzen Leben nicht hören werden. Sie sollten sich’s mal anhören. Es gibt auch Bücher. Ich habe schon eine ganze Menge gelesen. Sie könnten sich niederlassen und lesen.«
»Das hört sich alles ganz herrlich an, Spender.«
»Aber Sie wollen nicht bleiben?«
»Nein. Trotzdem vielen Dank.«
»Und Sie werden mich auch nicht in Ruhe lassen. Ich muß Sie alle umbringen.«
»Sie sind sehr optimistisch.«
»Ich habe etwas, für das es sich zu kämpfen und zu leben lohnt; das macht mich zum besseren Kämpfer. Ich habe jetzt etwas, das einer Religion entspricht. Das ist, als ob ich noch einmal zu atmen lernte. Zu atmen und in der Sonne zu liegen und mich bräunen zu lassen. Und Musik zu hören und ein Buch zu lesen. Was hat dagegen Ihre Zivilisation zu bieten?«
Der Kapitän bewegte sich unruhig. Er schüttelte den Kopf. »Die Sache tut mir leid. Alles tut mir leid.«
»Mir auch. Ich sollte Sie wohl jetzt zurückbringen, damit Sie angreifen können.«
»Ja, es wäre wohl besser.«
»Kapitän, ich werde Sie nicht umbringen. Wenn alles vorbei ist, sind Sie noch am Leben.«
»Was?«
»Ich hatte mir von Anfang an vorgenommen, daß Ihnen nichts passieren soll.«
»Also .«
»Ich werde Sie als einzigen schonen. Wenn die anderen tot sind, ändern Sie vielleicht Ihre Meinung.«
»Nein«, sagte der Kapitän. »Es ist zuviel irdisches Blut in mir. Ich müßte die Jagd auf Sie fortsetzen.«
»Selbst wenn Sie die Chance hätten, hierzubleiben?«
»Es ist seltsam, aber ja, selbst dann. Den Grund weiß ich nicht. Ich habe mich auch nie danach gefragt. Na, da wären wir ja.« Sie waren zum Treffpunkt zurückgekehrt. »Kommen Sie freiwillig mit, Spender? Das ist mein letztes Angebot.«
»Nein, danke.« Spender hob eine Hand. »Noch etwas. Wenn Sie siegen sollten, tun Sie mir bitte einen Gefallen. Tun Sie Ihr möglichstes, damit dieser Planet nicht völlig umgekrempelt wird - jedenfalls nicht in den nächsten fünfzig Jahren. Die Archäologen sollen ihre Chance bekommen, ja?«
»Ja.«
»Und ein letztes - wenn es Ihnen hilft, dann stellen Sie sich vor, ich sei ein Verrückter, der an einem Sommertag übergeschnappt ist und seither nicht mehr richtig im Kopf ist. So fällt es Ihnen bestimmt leichter.«
»Ich denke darüber nach. Bis dann, Spender. Viel Glück.«
»Sie sind mir ein komischer Kauz«, sagte Spender, als der Kapitän im warmen Wind wieder hangabwärts ging.