»Und andererseits sehe ich nicht, was Sie mir beschreiben. Also.«
Wieder erschauderten sie. Ein eisiger Hauch fuhr ihnen über den Rücken.
»Wäre es möglich.«
»Was?«
»Haben Sie gesagt >vom Himmel<?«
»Erde.«
»Erde, ein Name, nichts«, sagte der Marsianer. »aber... als ich vor einer Stunde über den Paß kam - « er fuhr sich mit der Hand über den Nacken - »war mir plötzlich.«
»Kalt?«
»Ja.«
»Und jetzt?«
»Das gleiche. Komisch. Es war alles so seltsam«, sagte der Marsianer, »das Licht, die Berge, die Straße. Ich spürte das Seltsame, ich spürte die Straße, das Licht, und einen Augenblick lang hatte ich das Gefühl, ganz allein zu sein auf dieser Welt.«
»Ich auch!« sagte Tom, und ihm war plötzlich, als spräche er mit einem lieben, alten Freund, dem er sich anvertraute und mit dem er sich an dem Thema erwärmte.
Der Marsianer schloß die Augen und öffnete sie wieder.
»Das kann nur eins bedeuten. Die Zeit. Ja. Sie sind ein Gespenst aus der Vergangenheit!«
»Nein, Sie kommen aus der Vergangenheit«, sagte der Mann von der Erde, der in Ruhe überlegt hatte.
»Sie sind ihrer Sache so sicher. Wie wollen Sie beweisen, wer aus der Vergangenheit stammt und wer aus der Zukunft? Welches Jahr haben wir?«
»Zweitausendundeins!«
»Was bedeutet mir das?«
Tom überlegte und zuckte die Achseln. »Nichts.«
»Ich hätte Ihnen genausogut sagen können, daß wir das Jahr 4 462 853 S.E.C. haben. Das bedeutet nichts, absolut nichts für Sie. Wo ist die Uhr, die uns den Stand der Sterne anzeigt?«
»Aber die Ruinen sind der Beweis! Sie beweisen, daß ich die Zukunft bin; sie beweisen, daß ich lebe und Sie tot sind!«
»Aber mein ganzer Körper widerlegt das. Mein Herz schlägt, mein Magen ist hungrig, mein Mund hat Durst. Nein, nein, keiner von uns ist tot oder lebendig. Wir stehen eher zwischen diesen beiden Polen. Zwei Fremde, die sich in der Nacht begegnen, das ist es. Zwei Fremde bei einer zufälligen Begegnung. Ruinen, haben Sie gesagt?«
»Ja. Haben Sie Angst?«
»Wer möchte schon in die Zukunft schauen, wer möchte das wirklich? Man kann sich ohne weiteres mit der Vergangenheit auseinandersetzen, aber wenn man sich vorstellt - die Säulen sind - eingestürzt sagen Sie? Und der See ohne Wasser, und die Kanäle trocken und die jungen Mädchen tot und die Blumen verwelkt?« Der Marsianer schwieg einen Augenblick, dann blickte er in die Ferne. »Aber da sind sie doch! Ich sehe sie! Reicht das nicht? Was Sie auch sagen, man wartet in diesem Moment auf mich.«
Und auf Tom warteten die fernen Raketen und die Stadt und die Frauen von der Erde. »So kommen wir nie auf einen Nenner«, sagte er.
»Wenn wir uns darüber einig sind, ist das schon etwas«, sagte der Marsianer. »Was macht es schon aus, ob wir wissen, wer die Vergangenheit und wer die Zukunft darstellt, solange wir nur beide leben. Was kommen muß, kommt - morgen oder in zehntausend Jahren. Woher wollen Sie wissen, daß jene Tempel nicht die zerfallenen Reste Ihrer Zivilisation sind, zehntausend Jahre in der Zukunft? Sie wissen es nicht, also forschen Sie auch nicht weiter. Aber die Nacht ist kurz. Da unten brennen die festlichen Feuer, und die Vögel fliegen am Himmel.«
Tom streckte die Hand aus. Der Marsianer tat es ihm nach.
Ihre Hände berührten sich nicht; sie verschmolzen miteinander.
»Werden wir uns wiedersehen?«
»Wer weiß? Vielleicht in einer anderen Nacht wie dieser.«
»Ich würde gern Ihr Fest mitmachen.«
»Und ich wünschte, ich könnte Ihre neue Stadt besuchen und mir die Schiffe ansehen, von denen Sie gesprochen haben, und die Menschen. Ich würde gern wissen, was alles so passiert ist.«
»Auf Wiedersehen«, sagte Tom.
»Gute Nacht.«
Auf seinem grünen Metallfahrzeug ritt der Marsianer still in die Hügel. Der Mann von der Erde wendete seinen Wagen und schlug ebenso wortlos die andere Richtung ein.
»Himmel, was für ein Traum!« seufzte Tom, die Hände auf das Steuerrad gelegt, und dachte an die Raketen, die Frauen, an den scharfen Geschmack des Whisky, die Virginia-Tänze und die Party.
Was für eine seltsame Vision, dachte der Marsianer, während er durch die Dunkelheit ritt, und er dachte an sein Fest, an die Kanäle, die Boote, die goldäugigen Frauen und die Lieder.
Die Nacht war dunkel. Die Monde waren untergegangen. Das Sternenlicht glänzte auf die leere Landstraße herab, auf der nichts mehr zu sehen oder zu hören war, absolut nichts. Und so blieb es die ganze kalte dunkle Nacht hindurch.
Oktober 2002: Das Ufer
Der Mars war ein fernes Ufer, und die Menschen landeten daran in Wellen. Jede Welle war anders, und jede war stärker. Die erste Welle brachte Männer, die an weiträumige Landschaften und Kälte und Einsamkeit gewöhnt waren, die Präriewölfe und Viehtreiber, die kein überflüssiges Gramm am Leibe trugen, an deren Gesichtern die Jahre gezehrt hatten, deren Augen wie Nagelköpfe und deren Hände wie alte Handschuhe waren, zum Zupacken bereit. Der Mars konnte ihnen nichts anhaben, denn sie waren für die Ebenen und Prärien geboren, wie sie es auf dem Mars gab. Sie kamen und machten die Welt etwas weniger geräumig, damit die anderen den Mut zum Nachkommen fanden. Sie setzten in die leeren Fensterhöhlen Scheiben ein und zündeten dahinter die Lichter an.
Sie waren die ersten Männer.
Wer die ersten Frauen sein würden, wußten alle.
Die zweite Welle von Männern hätte aus anderen Ländern kommen müssen, Menschen mit anderen Akzenten und Vorstellungen. Aber die Raketen waren amerikanisch, und dabei blieb es, während die Menschen in Europa und Asien und Südamerika und Australien und im Inselreich zurückgelassen wurden von den Kerzenflammen der Raketen. Denn in der übrigen Welt tobte der Krieg oder stand vor dem Ausbruch.
So bestand auch die zweite Welle aus Amerikanern. Und sie kamen aus den Mietskasernen und Straßenschluchten, und sie genossen die Gesellschaft schweigsamer Männer aus den ländlichen Staaten -Männer, die mit dem Schweigen etwas anzufangen wußten und die ihnen überreich Frieden schenkten nach all den Jahren, die sie eingezwängt in New York verbracht hatten. Und mit der zweiten Welle kamen auch Männer, die nach Blick und Gebärde zu urteilen auf dem Weg zu Gott zu sein schienen.
Februar 2003: Interim
Zum Bau der zehnten Stadt wurden fünftausend Meter Pinienbretter aus Oregon heraufgeschafft, dazu fünfundzwanzigtausend Meter kalifornischer Rotholzbretter, und man zimmerte am Ufer der steinernen Kanäle eine saubere kleine Stadt zusammen. An Sonntagabenden schimmerten durch die getönten Fenster der Kirchen rote und blaue und grüne Lichter, und es waren Stimmen zu hören, die die numerierten Lieder sangen. »Wir singen jetzt Nr. 79. Wir singen jetzt Nr. 94.« Und in manchen Häusern war das strenge Klappern einer Schreibmaschine zu hören - ein Romancier am Werk - oder das Kratzen der Feder eines Dichters; oder es gab überhaupt kein Geräusch, dann gingen vielleicht andere Dinge vor. In mancher Beziehung war es, als hätte ein gewaltiges Erdbeben die Wurzeln und Keller einer Iowa-Stadt ausgerissen und als hätte ein fantastischer Wirbelwind wie aus dem Zauberland Oz die ganze Stadt zum Mars getragen und sanft wieder abgesetzt.
April 2003: Die Musiker
Die Jungen unternahmen weite Ausflüge ins marsianische Land. Sie hatten duftende Tüten bei sich, in die sie während der langen Wanderung dann und wann die Nase steckten, um das saftige Aroma des Schinkens und der Pickles in Mayonnaise zu genießen und um sich das Gurgeln des Orangensafts in den wärmer werdenden Flaschen anzuhören. Sie schwangen ihre Einkaufsbeutel, die voller gewaschener, saftiger grüner Zwiebeln und duftender Leberwurst und rotem Ketchup und Weißbrot waren, und sie stachelten sich gegenseitig an, die strengen Ermahnungen ihrer Mütter zu mißachten. Sie rannten los und brüllten: