»Ich wünschte, ich wäre zu Hause«, sagte Tom.
»So hast du ja noch nie gesprochen«, sagte die Mutter. »Dir haben die Samstagabende in der Stadt doch immer Spaß gemacht.«
»Bleib bei mir«, flüsterte Tom. »Ich möchte nicht gefangen werden.«
Anna hatte die Worte gehört. »Nun hör aber auf mit dem Gerede; komm endlich!«
LaFarge bemerkte, daß der Junge seine Hand nahm. LaFarge drückte sie. »Ich bleibe bei dir, Junge.« Er betrachtete das lebhafte Hin und Her und wurde ebenfalls unruhig. »Wir bleiben nicht lange.«
»Unsinn, wir haben den ganzen Abend Zeit«, sagte Anna.
Sie überquerten die Straße, und drei Betrunkene stolperten ihnen in den Weg. Einen Augenblick herrschte großes Durcheinander, sie wurden getrennt und herumgewirbelt, und plötzlich blieb LaFarge verblüfft stehen.
Tom war verschwunden.
»Wo ist er denn?« fragte Anna aufgebracht. »Immer muß er weglaufen. Tom!« rief sie.
Mr. LaFarge hastete durch die Menge, doch Tom war verschwunden.
»Er kommt wieder; er ist bestimmt am Boot, wenn wir heimfahren«, sagte Anna überzeugt und führte ihren Mann zurück zum Lichtspieltheater. Plötzlich entstand Bewegung in der Menge, und ein Mann und eine Frau rannten an LaFarge vorüber. Er erkannte sie - Joe Spaulding und seine Frau. Sie waren in der Menge untergetaucht, ehe er etwas zu ihnen sagen konnte.
Nervös über die Schulter schauend, löste er die Eintrittskarten und ließ sich von seiner Frau widerstrebend in die Dunkelheit zerren.
Um elf Uhr war Tom nicht am Bootssteg. Mrs. LaFarge wurde sehr blaß.
»Mutter«, sagte LaFarge, »fang nicht an, dir Gedanken zu machen. Ich finde ihn schon. Warte hier.«
»Beeil dich.« Ihre Stimme ging im Plätschern des Wassers unter.
Er wanderte durch die nächtlichen Straßen, die Hände in den Taschen. Ringsum gingen nach und nach die Lichter aus. Noch lehnten hier und da Menschen in den Fenstern, denn es war eine warme Nacht, obwohl von Zeit zu Zeit Regenwolken die Sterne am Himmel verdunkelten. Während er dahinschritt, dachte er an die große Angst des Jungen, gefangen zu werden, an seine Angst vor Menschenmengen und Städten. Es hat keinen Sinn, dachte der alte Mann müde. Vielleicht war der Junge für immer verschwunden, vielleicht hat es ihn nie gegeben. LaFarge bog in eine Gasse ein und zählte die Hausnummern ab.
»Hallo, LaFarge.«
Ein Mann saß auf der Schwelle seiner Haustür und rauchte Pfeife.
»Hallo, Mike.«
»Hast du Streit mit deiner Frau gehabt und marschierst dir den Ärger vom Leib?«
»Nein. Ich bin nur so unterwegs.«
»Du siehst aus, als hättest du etwas verloren. Ach, da wir gerade von etwas Verlorenem sprechen«, sagte Mike, »heute abend hat sich übrigens jemand wiedergefunden. Kennst du Spaulding? Erinnerst du dich an seine Tochter Lavinia?«
»Ja.« LaFarge fröstelte. Er glaubte einen Traum zu haben, den er schon kannte. Er ahnte die nächsten Worte bereits, ehe sie ausgesprochen wurden.
»Lavinia ist heute nach Hause zurückgekehrt«, sagte Mike und stieß eine Rauchwolke aus. »Du weißt doch, sie hat sich vor einem Monat irgendwo draußen auf dem Grund des toten Meeres verlaufen. Man fand dann ein schlimm aussehendes Etwas, das man für die Überreste der Kleinen hielt, und seither war mit den Spauldings nichts mehr anzufangen. Joe ist immer herummarschiert und hat behauptet, sie wäre gar nicht tot, es sei gar nicht ihre Leiche. Damit hat er wohl tatsächlich recht gehabt. Lavinia ist wieder aufgetaucht.«
»Wo denn?« LaFarge spürte, wie er heftiger atmete, wie sein Herz schneller schlug.
»Auf der Hauptstraße. Die Spauldings kauften sich gerade Eintrittskarten für ein Kino. Und ganz plötzlich war Lavinia da, mitten in der Menge. Muß eine Szene gewesen sein. Sie hat ihre Eltern zuerst gar nicht erkannt. Sie sind ihr einen halben Block gefolgt und haben sie angesprochen. Und da erinnerte sie sich.«
»Hast du sie gesehen?«
»Nein, aber ich habe sie singen hören. Weißt du noch, wie sie immer >Die schönen Ufer von Loch Lomond< gesungen hat? Vorhin hab ich sie drüben im Haus singen hören, für ihren Vater. War angenehm fürs Ohr; ein so hübsches Mädchen wie sie. Ich hatt’s für eine Schande gehalten, daß sie tot sein sollte; und wenn sie jetzt wieder da ist, um so besser. Meine Güte, du siehst aber ganz schön mitgenommen aus, Lafe. Komm doch auf einen Whisky herein.«
»Nein danke, Mike.« Der alte Mann ging weiter. Er hörte Mike gute Nacht sagen und antwortete nicht, er richtete den Blick auf ein einstöckiges Gebäude mit einer Fülle roter marsianischer Blüten auf dem Dach. An der Rückseite, dem Garten zugewandt, verlief ein schmiedeeiserner Balkon, und die Fenster dahinter waren erleuchtet. Es war sehr spät, und immer wieder dachte er: Was geschieht mit Anna, wenn ich Tom nicht mitbringe? Der zweite Schock, der zweite Tod -welche Folgen hat das für sie? Wird sie sich wieder an den ersten Tod erinnern und an den Traum und das plötzliche Verschwinden? O Gott, ich muß Tom finden, was soll sonst aus Anna werden? Arme Anna, die jetzt unten am Steg wartet. Er blieb stehen und hob den Kopf. Irgendwo oben verabschiedeten sich Stimmen voneinander, wünschten einander eine gute Nacht, Türen fielen ins Schloß, Lampen wurden gelöscht, nur leises Singen war noch zu hören. Gleich darauf kam ein entzückendes Mädchen, kaum achtzehn Jahre alt, auf den Balkon.
LaFarge rief hinauf, mit heiserer Stimme.
Das Mädchen wandte sich um und schaute herab. »Wer ist da?« fragte es.
»Ich«, sagte der alte Mann und stockte mit bebenden Lippen, als er erkannte, wie dumm und seltsam seine Antwort klingen mußte. Sollte er denn rufen: >Tom, hier ist dein Vater?< Wie sollte er sie anreden? Sie mußte ihn für wahnsinnig halten und würde ihre Eltern rufen.
Im hervorströmenden Licht beugte sich das Mädchen über die Brüstung. »Ich kenne dich«, antwortete sie leise. »Bitte geh; du kannst nichts daran ändern.«
»Du mußt mitkommen!« Die Worte strömten heraus, ehe er sie zurückhalten konnte.
Die Gestalt zog sich aus dem Mondlicht zurück, bis sie alle Identität verloren hatte und nur noch eine Stimme aus dem Dunkel war. »Ich bin nicht mehr dein Sohn«, sagte sie. »Wir hätten nicht in die Stadt gehen dürfen.«
»Anna wartet am Steg!«
»Es tut mir leid«, sagte die leise Stimme. »Was soll ich denn machen? Ich bin glücklich hier und werde geliebt, so wie ihr mich geliebt habt. Ich bin, was ich bin, und ich nehme, was sich nehmen läßt; es ist zu spät, sie haben mich gefangen.«
»Aber Anna - der Schock. Denk mal daran.«
»Die Gedanken in diesem Haus sind zu stark; es ist, als wäre ich eingeschlossen. Ich kann mich nicht mehr zurückverwandeln.«
»Du bist Tom, du warst Tom, oder? Du treibst doch kein böses Spiel mit einem alten Mann, bist doch nicht wirklich Lavinia Spaulding?«
»Ich bin niemand - ich bin nur ich. Doch stets bin ich irgend etwas, und jetzt bin ich etwas, an dem du nichts ändern kannst.«
»Du bist nicht sicher in der Stadt. Draußen am Kanal wärst du besser aufgehoben, wo dir niemand weh tun kann«, flehte der alte Mann.
»Das stimmt.« Die Stimme stockte. »Aber ich muß auch an die Leute hier denken. Wie müßte ihnen zumute sein, wenn ich morgen früh wieder verschwunden wäre - diesmal für immer? Trotzdem weiß die Mutter, wer ich wirklich bin; sie hat es erraten wie du. Ich nehme an, daß überhaupt alle Bescheid wissen, aber niemand ist neugierig. Die Vorsehung stellt man nicht in Frage. Wenn man die Wirklichkeit nicht haben kann, ist die Illusion ein willkommener Ersatz. Ich bin zwar nicht die heimgekehrte Tochter, aber auf meine Weise bin ich etwas Besseres; ein von ihnen geformtes Idealbild. Ich habe die Wahl - entweder muß ich ihnen Schmerz zufügen oder deiner Frau.«