»Sie sind fünf in der Familie. Sie können den Verlust besser ertragen!«
»Bitte!« sagte die Stimme. »Ich bin müde!«
Die Stimme des alten Mannes wurde fester. »Du mußt mitkommen. Ich kann nicht zulassen, daß Anna noch einmal einen Schock erleidet. Du bist unser Sohn. Du bist mein Sohn, und du gehörst zu uns.«
»Nein, bitte!«
Der Schatten zitterte.
»Du gehörst nicht in dieses Haus oder zu diesen Leuten!«
»Nein, tu mir das nicht an!«
»Tom, mein Sohn, hör zu! Komm runter. Steig an den Ranken herab, Junge, los, komm. Anna wartet; wir geben dir ein gutes Heim, alles, was du brauchst.« Er starrte nach oben und legte seine ganze Willenskraft in den Blick.
Der Schatten geriet in Bewegung, in den Ranken raschelte es.
Schließlich sagte die leise Stimme: »Gut, Vater.«
»Tom!«
Im Mondlicht glitt die Gestalt eines Jungen behend durch die Blätter. LaFarge streckte die Arme aus und fing ihn auf.
Oben gingen die Lichter an. Hinter einem der vergitterten Fenster ertönte eine Stimme. »Wer ist da?«
»Beeil dich, Junge!«
Mehr Licht, mehr Stimmen. »Halt, oder ich schieße! Vinny, ist alles in Ordnung?« Schnelle Schritte.
Der alte Mann und der Junge rannten durch den Garten.
Ein Schuß krachte. Die Kugel fuhr in den Zaun, als sie das Gartentor zuschlugen.
»Tom, dort entlang; ich renne hier herum und führe sie in die Irre. Du läufst zum Kanal; ich komme in zehn Minuten nach, Junge!«
Sie trennten sich.
Der Mond versteckte sich hinter einer Wolke. Der alte Mann stolperte durch die Dunkelheit.
»Anna, ich bin’s!«
Die alte Frau half ihm zitternd in das Boot. »Wo ist Tom?«
»Er muß gleich hier sein«, sagte LaFarge schweratmend.
Sie wandten sich um und beobachteten die Gassen und die schlafende Stadt. Noch immer waren Leute unterwegs: Spaziergänger, ein Polizist, ein Nachtwächter, ein Raketenpilot, mehrere Männer nach nächtlichem Rendezvous, vier Männer und Frauen, die lachend aus einer Bar kamen. Irgendwo spielte Musik.
»Warum kommt er nicht?« fragte die alte Frau.
»Er kommt, er kommt.« Aber LaFarge wurde unruhig. Wenn nun der Junge wieder gefangen worden ist, irgendwie, irgendwo zwischen Haus und Steg, irgendwo auf seinem Lauf durch die mitternächtlichen Straßen mit ihren dunklen Häusern? Es war ein langer Weg, selbst für einen Jungen. Trotzdem hätte er als erster hier sein müssen.
Und dort hinten, weit entfernt auf der mondhellen Straße, rannte eine Gestalt.
LaFarge begann zu rufen und verstummte wieder, denn hinter der Gestalt waren andere Stimmen und hastende Schritte zu hören. Lichter gingen an, ein Fenster nach dem anderen wurde hell. Über den offenen Platz am Steg rannte die Gestalt. Es war nicht Tom, es war der verwischte Umriß einer Gestalt mit einem Gesicht, das im Licht der Kugellampe, die den Platz säumte, silbrig schimmerte. Und immer näher kam das Wesen, und je näher es kam, desto vertrauter wurde es, bis es auf dem Steg zu Tom geworden war! Anna streckte ihm die Hände entgegen, und La Farge wollte hastig ablegen. Doch es war zu spät.
Denn aus der Straße eilte jetzt ein Mann auf den Platz, gefolgt von einem zweiten Mann, einer Frau, zwei weiteren Männern, Mr. Spaulding, rennend. Verblüfft hielten sie inne. Sie sahen sich verwirrt um, wollten umkehren, denn das konnte doch nur ein Alptraum sein, so verrückt war alles. Aber dann kamen sie doch näher, zögernd, stockend, weitergehend.
Es war zu spät. Die Nacht, das Ereignis war vorbei. LaFarge drehte unschlüssig das Tau in den Händen. Er fröstelte und fühlte sich sehr einsam. Die Menschen hoben und senkten im Mondlicht geisterhaft die Füße und kamen, die Augen aufgerissen, sehr schnell näher, bis die Menge den Steg erreicht hatte und dort verharrte. Sie starrten mit wirren Blicken in das Boot. Sie schrien auf.
»Stehenbleiben, LaFarge!« Spaulding hob das Gewehr.
Und jezt war klar, was geschehen war. Tom, der allein durch die mondhellen Straßen rennt und dabei Menschen passiert. Ein Polizist sieht die Gestalt vorübereilen, ruft einen Namen, nimmt die Verfolgung auf. »He, Sie, halt?« Und er sieht das Gesicht eines Verbrechers. Und überall entlang der Straße geschieht gleiches - Männer, Frauen, Nachtwächter, Raketenpiloten. Die eilige Gestalt bedeutet ihnen alles -Identität, Persönlichkeit, ein Name. Wie viele verschiedene Namen waren in den letzten fünf Minuten hinausgeschrien worden? Wie viele verschiedene Gesichter waren über Toms Gesicht gehuscht, keins das wahre?
Einen langen Weg hatten sie zurückgelegt, Verfolgter und Verfolger, Traum und Träumer, Beute und Jagdhunde. Und überall am Weg das plötzliche Erkennen, das Aufblitzen eines vertrauten Augenpaars, das Ausrufen eines altbekannten Namens, Erinnerungen an zurückliegende Ereignisse, während die Menge größer wurde. Und die Betroffenen sprangen vor, als der Traum wie eine Reflexion in tausend Spiegeln, tausend Augen, heranhuschte und vorbeieilte und jedem ein anderes Gesicht zeigte - den Menschen vor sich, hinter sich, den Menschen, die er noch nicht getroffen hatte und die er nicht sehen konnte.
Und da stehen sie nun alle am Boot, dachte LaFarge, und wollen ihren Traum, jeder will seinen Traum für sich, so wie wir uns wünschen, daß er Tom sei - nicht Lavinia oder Roger oder sonst jemand. Aber nun ist alles zu spät. Die Sache ist auf die Spitze getrieben worden.
»Kommt rauf - alle!« befahl Spaulding.
Tom kletterte an Land. Spaulding packte sein Handgelenk. »Du kommst mit nach Hause. Ich weiß Bescheid.«
»Einen Augenblick«, sagte der Polizist. »Er ist mein Gefangener. Dexter heißt er und wird wegen Mordes gesucht!«
»Nein!« schluchzte eine Frau. »Das ist mein Mann! Ich werde doch meinen Mann kennen!«
Andere Stimmen protestierten ebenfalls. Die Menge drängte näher.
Mrs. LaFarge stellte sich vor Tom. »Das ist mein Sohn. Sie haben kein Recht, ihm etwas vorzuwerfen. Und wir fahren jetzt auf der Stelle nach Hause!«
Tom stand da und zitterte am ganzen Leibe. Er sah elend aus. Die Menge wogte um ihn, streckte unruhige Hände aus, zupackend, verlangend.
Tom schrie.
Vor ihren Augen veränderte er sich. Er war zugleich Tom und James und ein Mann namens Switchman und ein anderer Mann, der Butterfield hieß, er war der Bürgermeister und ein junges Mädchen namens Judith und der Ehemann William und die Ehefrau Clarisse. Er war Wachs im Zugriff ihrer Gedanken. Sie brüllten, drängten heran, flehten. Er schrie, warf die Hände hoch, und sein Gesicht gab jedem Verlangen nach. »Tom!« brüllte LaFarge. »Alice!« schrie ein anderer. »William!« Sie packten seine Handgelenke und wirbelten ihn herum, bis er mit einem letzten Entsetzensschrei zu Boden stürzte.
Er lag auf dem Pflaster, das geschmolzene Wachs erkaltete, und sein Gesicht vereinigte viele Gesichter auf sich - ein blaues Auge und ein goldgelbes Auge, braunes, rotes, gelbes, schwarzes Haar, eine buschige und eine dünne Augenbraue, eine große Hand und eine kleine.
Sie standen über ihn gebeugt und hoben die Finger an das Gesicht. Sie bückten sich.
»Er ist tot«, sagte schließlich jemand.
Es begann zu regnen.
Der Regen fiel auf die Menschen herab, und sie sahen zum Himmel auf.
Zuerst langsam, dann schneller wandten sich die Menschen ab und gingen davon, begannen auseinanderzulaufen, entflohen der unheimlichen Szene. Nach kaum einer Minute lag der Platz verlassen da. Nur Mr. und Mrs. LaFarge waren zurückgeblieben, den Blick gesenkt, Hand in Hand, entsetzt.
Der Regen traf das nach oben gerichtete Gesicht.
Anna sagte nichts; sie begann zu weinen.
»Komm nach Hause, Anna - wir können doch nichts daran ändern«, sagte der alte Mann.
Sie stiegen in ihr Boot und fuhren in der Dunkelheit auf dem Kanal zurück. Sie betraten ihr Haus ud zündeten ein kleines Feuer an und wärmten sich die Hände. Sie gingen ins Bett und lagen beieinander, kalt und dürr, und lauschten auf den Regen, der auf das Dach trommelte.