Nach einem unglaublich langen Tag hinter dem Steuer fuhr er den Wagen an den Straßenrand, zerrte sich die engen Schuhe von den Füßen, legte sich quer auf die Vordersitze und schob seinen grauen Homburg über die müden Augen. Bald ging sein Atem langsam und gleichmäßig. Der Wind wehte, und die Sterne schienen im Dunkel sanft auf ihn herab. Ringsum erhoben sich die Marsberge, Millionen Jahre alt. Sternenlicht glitzerte auf den Türmen einer kleinen marsianischen Stadt, die sich zwischen den blauen Hügeln kaum größer als ein Schachspiel ausnahm.
Er schwebte zwischen Wachen und Träumen. Er flüsterte. Genevieve.
Oh, Genevieve, süße Genevieve, sang er leise, die Jahre kommen, die Jahre gehen. Aber Genevieve, süße Genevieve... Wärme durchflutete ihn. Er hörte ihre leise, süße, angenehme Stimme singen. Hallo, o hallo, Walter! Ich und ein Tonband, was fällt dir ein! Wo bist du, Walter, wo bist du?
Er seufzte und streckte im Mondschein die Hand aus, um sie zu berühren. Langes dunkles Haar, das im Wind wehte; schön war es. Und ihre Lippen wie rote Pfefferminze. Und ihre Wangen wie frischgeschnittene feuchte Rosen. Und ihr Körper war ein duftiger wallender Nebel, während ihm ihre sanfte süße Stimme noch einmal die Worte des alten traurigen Liedes zuflüsterte: Oh, Genevieve, süße Genevieve, die Jahre kommen, die Jahre gehen...
Er schlief fest.
Er erreichte Neu-Texas-City gegen Mitternacht.
Er hielt vor dem Deluxe-Schönheitssalon und rief.
Er rechnete damit, daß sie ihm entgegeneilen würde, parfum-duftend, lachend.
Nichts geschah.
»Sie schläft«, sagte er und ging zur Tür. »Ich bin da!« rief er. »Hallo, Genevieve!«
Die Stadt schimmerte im Licht der beiden Monde und schwieg. Irgendwo bewegte der Wind eine Markise.
Er stieß die Glastür auf und trat ein.
»He!« Er lachte unsicher. »Sie brauchen sich nicht zu verstecken! Ich weiß, daß Sie hier sind!«
Er sah in jeder Kabine nach.
Er fand ein winziges Taschentuch auf dem Fußboden. Es duftete so herrlich, daß er fast das Gleichgewicht verlor.
»Genevieve«, sagte er.
Er führ durch die leeren Straßen, doch es war nichts zu sehen. »Wenn du mir einen Streich spielen willst...«
Er hielt an. »Halt. Wir wurden unterbrochen. Vielleicht ist sie nach Marlin gefahren, während ich auf dem Weg hierher war! Sie hat wahrscheinlich die alte Straße am Meer entlang genommen, und da haben wir uns verfehlt. Woher sollte sie auch wissen, daß ich komme? Gesagt hab ich das ja nicht. Und als die Leitung unterbrochen wurde, hatte sie solche Angst, daß sie sofort nach Marlin gefahren ist, um mich zu finden. Und ich stehe jetzt hier, bei Gott! Was für ein Idiot ich bin!«
Wild hupend raste er aus der Stadt.
Er fuhr die ganze Nacht hindurch. Er dachte: Und wenn sie nun nicht in Marlin auf mich wartet?
Sofort schob er den Gedanken beiseite. Sie mußte einfach dort sein. Und er wollte ihr entgegenlaufen und sie in die Arme nehmen und ihr vielleicht sogar einen Kuß geben, auf den Mund.
Genevieve, süße Genevieve, pfiff er und erhöhte das Tempo auf hundert Meilen in der Stunde.
In der Morgendämmerung lag Marlin totenstill da. In mehreren Läden brannten noch Lichter, und ein Musikautomat, der hundert Stunden lang ununterbrochen gespielt hatte, verstummte plötzlich mit elektrischem Knistern und machte das Schweigen noch bedrückender. Die Sonne erwärmte die Straßen und den kalten leeren Himmel.
Mit aufgeblendeten Scheinwerfern bog Walter in die Hauptstraße ein und ließ im Doppelrhythmus die Hupe erschallen - sechsmal an dieser Ecke, sechsmal an der nächsten. Er spähte zu den Läden hinüber. Er war blaß und müde, und seine Hände rutschten am schweißfeuchten Steuerrad ab.
»Genevieve!« rief er der leeren Straße zu.
Die Tür eines Schönheitssalons öffnete sich.
»Genevieve!« Er hielt mit einem Ruck.
Genevieve Selsor erschien in der offenen Tür eines Salons, als er über die Straße rannte. Sie hatte eine offene Packung Pralinen im Arm. Die Finger, die die Schachtel hielten, waren dick und bleich. Sie trat ins Licht, und ihr Gesicht war rund und fett, und ihre Augen waren zwei gewaltige Eier, die jemand in einen Klumpen weißen Brotteig gedrückt hatte. Ihre Beine glichen Baumstämmen, und sie bewegte sich mit linkischem Schurren dahin. Ihr Haar war von einem unbestimmbaren Braun, und ihre Frisur erinnerte an ein Vogelnest. Sie hatte überhaupt keine Lippen und glich diesen Mangel durch einen übergroß aufgemalten, fettigen roten Mund aus, der sich jetzt entzückt öffnete und sofort nervös wieder schloß. Ihre Augenbrauen waren zu dünnen Strichen ausgezupft.
Walter blieb stehen. Das freudig erwartungsvolle Lächeln auf seinem Gesicht erstarb. Er starrte sie an. Sie ließ die Pralinenpackung auf den Bürgersteig fallen.
»Sind Sie - Genevieve Selsor?« In seinen Ohren rauschte es.
»Sind Sie Walter Griff?« sagte sie.
»Gripp.«
»Gripp«, verbesserte sie sich.
»Guten Morgen«, sagte er gepreßt.
»Guten Morgen.« Sie schüttelte ihm die Hand.
An ihren Fingern klebte Schokolade.
»So«, sagte Walter Gripp.
»Was?« fragte Genevieve Selsor.
»Ich habe >So< gesagt«, sagte Walter.
»Oh.«
Es war neun Uhr abends. Sie hatten den Tag bei einem Picknick verbracht, und zum Abendessen hatte er ihr ein Filet Mignon bereitet, das ihr nicht geschmeckt hatte, weil es ihr zu roh war. Als er es noch etwas gedünstet hatte, war es plötzlich zu stark geschmort oder gebraten oder sonstwas. Er lachte und sagte: »Wir sehen uns einen Film an!« Sie war einverstanden und hakte sich mit ihren Schokoladenfingern bei ihm unter. Sie bestand schließlich auf einem fünfzig Jahre alten Film mit Clark Gable. »Ist er nicht großartig?« kicherte sie. »Ist er nicht großartig?« Der Film ging zu Ende. »Spiel ihn noch mal«, befahl sie. »Noch mal?« fragte er. »Noch mal«, sagte sie. Und als er sich wieder setzte, lehnte sie sich an ihn, und ihre Hände gingen auf Wanderschaft. »Du bist zwar nicht ganz das, was ich erwartet habe, aber du bist nett«, sagte sie. »Danke«, sagte er und schluckte. »Oh, dieser Gable«, sagte sie neckend und kniff ihn ins Bein. »Autsch«, sagte er.
Nach dem Film gingen sie durch die stillen Straßen. Sie warf eine Schaufensterscheibe ein, holte das bunteste Kleid heraus, das sie finden konnte, und zog es an. Dann goß sie sich eine Flasche Parfüm über den Kopf und hatte nun große Ähnlichkeit mit einem regennassen Schäferhund. »Wie alt bist du?« fragte er. »Rate mal.« Tropfnaß führte sie ihn die Straße entlang. »Oh, vielleicht dreißig«, sagte er höflich. »Oh«, meinte sie enttäuscht, »ich bin erst siebenundzwanzig.«
»Aha«, meinte er nachdenklich.
»Schon wieder ein Süßigkeitenladen«, sagte sie. »Ehrlich, seit der Explosion hab ich gelebt wie eine Königin. Meine Familie hab ich nie gemocht, waren alles Idioten. Sie sind vor zwei Monaten zur Erde zurückgekehrt. Ich sollte mit der letzten Rakete nachkommen, aber ich bin geblieben; weißt du, warum?«
»Warum?«
»Weil alle auf mir herumgehackt haben. Und da bin ich geblieben, wo ich nun den ganzen Tag in Parfüm baden und zehntausend Mixgetränke trinken und Süßigkeiten essen kann, ohne daß die Leute sagen: >Oh, das hat aber zu viele Kalorien!< Na, und da bin ich nun!«
»Da bist du.« Walter schloß die Augen.
»Es ist schon spät«, sagte sie und sah ihn an.
»Ja.«
»Ich bin müde«, sagte sie.
»Komisch, ich bin hellwach.«
»Oh«, sagte sie.
»Ich könnte die ganze Nacht aufbleiben«, sagte er. »Du, da gibt’s eine gute Platte bei Mike. Ich spiel sie dir vor.«
»Ich bin müde.« Ihre wissenden Augen sahen strahlend zu ihm auf.