»Ich bin ganz munter«, sagte er. »Komisch.«
»Komm, wir gehen in den Schönheitssalon«, sagte sie. »Ich möchte dir etwas zeigen.«
Sie führte ihn durch die Glastür zu einer großen weißen Schachtel. »Ich hab’s mitgenommen«, sagte sie, »als ich von Texas City abfuhr.« Sie öffnete das rosa Band. »Ich dachte mir, na ja, ich bin doch die einzige Frau auf dem Mars, und du bist der einzige Mann, und da. na ja.« Sie hob den Deckel und klappte mehrere Schichten knisterndes rosa Seidenpapier zur Seite und betastete stolz ihr Mitbringsel. »Da!«
Walter Gripp starrte sie an.
»Was ist das?« fragte er und begann zu zittern.
»Weißt du das nicht, Dummkopf? Spitzenbesetzt und weiß und herrlich!«
»Nein, ich weiß tatsächlich nicht, was es ist.«
»Ein Brautkleid, du Dummkopf!«
»Ja?« Seine Stimme brach.
Er schloß die Augen. Ihre Stimme war noch immer leise und süß und angenehm, wie er sie vom Telefon in Erinnerung hatte. Aber wenn er die Augen öffnete und sie anschaute .
Er wich zurück. »Wie schön«, sagte er.
»Nicht?«
»Genevieve.« Er sah zur Tür.
»Ja?«
»Genevieve, ich muß dir etwas sagen.«
»Ja?« Sie kam auf ihn zu, und der schwere Parfumduf umlagerte ihr rundes bleiches Gesicht.
»Was ich dir sagen will.«, sagte er.
»Ja?«
»Leb wohl!«
Und ehe sie schreien konnte, war er aus dem Haus gestürmt und hatte sich in seinen Wagen geworfen.
Sie kam angelaufen und stand auf dem Bürgersteig, als er den Wagen wendete.
»Walter Griff, komm zurück!« heulte sie und schwenkte die Arme.
»Gripp«, verbesserte er sie.
»Gripp!« rief sie.
Der Wagen raste auf der stillen Straße davon und kümmerte sich nicht um ihr Stampfen und Schreien. Die Auspuffdämpfe hüllten das weiße Kleid ein, das sie in ihren dicken Händen zerdrückte, und die Sterne schimmerten hell, und der Wagen verschwand draußen in der Wüste und wurde von der Dunkelheit verschluckt.
Er fuhr drei ganze Tage und Nächte hindurch. Einmal glaubte er sich von einem Wagen verfolgt, und der kalte Schweiß brach ihm aus, und er nahm eine andere Landstraße, die an kleinen toten Städten vorbei quer durch die verlassene Marswelt führte, und er fuhr und fuhr, eine Woche lang, bis er zehntausend Meilen zwischen sich und Marlin gebracht hatte. Schließlich hielt er in einer kleinen Stadt namens Holtville, wo es ein paar kleine Läden gab, die er am Abend beleuchten konnte, und eine Handvoll Restaurants, in denen er sitzen und sich etwas zu essen bestellen konnte. Und dort ist er geblieben, mit zwei vollen Tiefkühltruhen, deren Inhalt hundert Jahre lang reicht, und mit ausreichend Zigarren für zehntausend Tage, und mit einem guten weichen Bett.
Und wenn irgendwann in all den langen Jahren einmal das Telefon klingeln wird, hebt er nicht ab.
April 2026: Die langen Jahre
Wenn der Wind vom Himmel herabwehte, saß er mit seiner kleinen Familie in der Steinhütte und wärmte sich über einem Holzfeuer die Hände. Der Wind wühlte das Wasser des Kanals auf und pustete fast die Sterne vom Firmament, doch Mr. Hathaway saß zufrieden da und sprach zu seiner Frau, und seine Frau antwortete ihm, und er erzählte seinen beiden Töchtern und seinem Sohn von der guten alten Zeit auf der Erde, und sie gingen ebenfalls höflich darauf ein.
Es war im zwanzigsten Jahr nach dem Großen Krieg. Der Mars war ein toter Planet. Ob es mit der Erde ebenso stand, war eine Frage, mit der sich Hathaway und seine Familie in den langen Marsnächten oft beschäftigten.
Auch an diesem Abend war einer der heftigsten marsianischen Staubstürme über die niedrigen Marsfriedhöfe herangefegt, jagte durch alte Dörfer und riß die Plastikwände der neuen amerikanischen Stadt mit sich, die langsam im Sand unterging, verlassen.
Das Unwetter schwächte sich ab. Hathaway trat in die klare Luft hinaus und sah die Erde grün am unruhig bewegten Himmel leuchten. Er hob die Hand, als wollte er an der Decke eines dunklen Raumes eine nur schwach leuchtende Gaslampe heller stellen. Er schaute über den toten Seegrund. Keine Menschenseele auf dem ganzen Planeten, dachte er. Nur ich. Und sie. Er wandte sich um und schaute in die Steinhütte.
Was ging in diesen Tagen auf der Erde vor? Durch sein 75-cm-Teleskop war im Erscheinungsbild der Erde keine äußere Veränderung festzustellen. Na ja, dachte er, wenn ich mich vorsehe, lebe ich noch zwanzig Jahre. Da kommt vielleicht doch mal jemand des Wegs. Entweder über die toten Meere oder aus dem All in einer Rakete auf einer kleinen roten Flammensäule.
Er rief in die Hütte: »Ich gehe noch ein Stück spazieren.«
»Ja«, sagte seine Frau.
Er schlenderte zwischen den Ruinen der Häuser hindurch. »Made in New York«, war auf einem Metallstück zu lesen, an dem er vorüberkam. »Und all die Dinge von der Erde werden noch vor den alten marsianischen Städten wieder verschwunden sein.« Er blickte zu dem fünfzig Jahrhunderte alten Marsdorf hinüber, das in den blauen Bergen lag.
Schließlich erreichte er einen abgelegenen marsianischen Friedhof, eine Reihe kleiner sechseckiger Steine auf einem windgepeitschten Hügel.
Vor vier Gräbern machte er halt, vier Gräber mit groben Holzkreuzen und Namen darauf. Tränen stiegen ihm nicht in die Augen; sie waren längst versiegt.
»Vergebt ihr mir, was ich getan habe?« fragte er die Kreuze. »Ich war so allein. Ihr versteht mich doch, ja?«
Er kehrte zur Steinhütte zurück, und vor dem Eintreten beschirmte er noch einmal die Augen mit der Hand und sah forschend in den schwarzen Himmel.
»Man wartet und wartet und schaut immer wieder«, sagte er, »und eines Nachts kommt vielleicht.«
Eine winzige rote Flamme züngelte am Himmel.
Er verließ den Lichtkreis der Hütte.
».und man schaut ein zweites Mal«, flüsterte er.
Die winzige rote Flamme war nicht verschwunden.
»Das war gestern abend noch nicht da«, flüsterte er.
Er stolperte und fiel hin, rappelte sich wieder auf, rannte hinter die Hütte, drehte das Teleskop herum und richtete es auf den Himmel.
Nach einem langen, prüfenden Blick erschien er in der niedrigen Hüttentür. Die Frau und die beiden Töchter und der Sohn sahen ihn erstaunt an. Endlich konnte er wieder sprechen.
»Gute Nachricht«, sagte er. »Ich habe in den Himmel geblickt. Es kommt eine Rakete, die uns alle nach Hause bringt. Sie wird morgen früh hier sein.«
Er setzte sich, schlug die Hände vors Gesicht und begann leise zu weinen.
Um drei Uhr in der Nacht steckte er die Ruinen Neu-New-Yorks in Brand.
Er nahm eine Fackel, zündete sie an, ging in die Plastikstadt und berührte da und dort die Wände mit der Flamme. Die Stadt erblühte in gewaltigen Licht- und Hitzeeruptionen - eine illuminierte Quadratmeile, die auch aus dem All zu sehen sein mußte. Sie würde die Rakete zu Mr. Hathaway und seiner Familie führen.
Schmerzhaft raste das Herz in seiner Brust, als er zur Hütte zurückkehrte. »Seht!« Er hielt eine staubige Flasche ins Licht. »Ein Wein, den ich extra für heute abend aufgehoben habe. Ich wußte, daß uns eines Tages jemand finden würde! Zur Feier trinken wir ein Glas!«
Fünf Gläser schenkte er voll.
»Lang ist es her«, sagte er und schaute feierlich in sein Glas. »Erinnert ihr euch an den Tag, an dem der Krieg ausbrach? Zwanzig Jahre und sieben Monate ist es jetzt her. Und unsere Raketen wurden vom Mars nach Hause beordert. Und du und ich und die Kinder - wir waren gerade in den Bergen mit archäologischen Ausgrabungen beschäftigt; wir versuchten die Methoden der alten marsianischen Chirurgie zu erforschen. Wir jagten unsere Pferde fast zu Tode, um noch mitgenommen zu werden, wißt ihr noch? Trotzdem erreichten wir die Stadt eine Woche zu spät. Amerika war schon vernichtet; die Raketen waren abgeflogen, ohne auf Verstreute zu warten, erinnert ihr euch? Und wißt ihr noch, wie wir dann feststellten, daß wir die einzigen waren, die man hier oben auf dem Mars zurückgelassen hatte? Gott, wie die Jahre vergehen! Ohne euch alle hätte ich nicht ausgehalten. Ohne euch hätte ich mich umgebracht. In eurer Gesellschaft hat sich die Zeit gelohnt. Auf uns.« Er hob sein Glas. »Und auf unser langes gemeinsames Warten.« Er trank.