Der Sohn erwiderte: »Dreiundzwanzig.«
Wilder rückte ungeschickt seine Bestecke zurecht. Er war bleich geworden. Sein Nachbar flüsterte: »Kapitän Wilder, das kann nicht stimmen.«
Der Sohn entfernte sich, um weitere Stühle zu holen.
»Was war das, Williamson?«
»Ich bin jetzt dreiundvierzig, Kapitän, und vor zwanzig Jahren bin ich mit dem jungen John Hathaway, mit dem Mann da drüben, zur Schule gegangen. Er behauptet, nur dreiundzwanzig zu sein; er sieht auch nur wie dreiundzwanzig aus. Aber das stimmt nicht. Er müßte mindestens dreiundvierzig sein. Was bedeutet das alles, Sir?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sie sind ja ganz blaß, Sir.«
»Mir ist nicht gut. Mit den Töchtern ist es nämlich das gleiche. Ich habe sie vor zwanzig Jahren kennengelernt, und sie haben sich überhaupt nicht verändert. Würden Sie mir einen Gefallen tun? Ich möchte, daß Sie einen kleinen Gang für mich erledigen, Williamson. Ich sage Ihnen, wohin Sie gehen und wonach Sie Ausschau halten müssen. Wenn wir mit dem Frühstück fast fertig sind, machen Sie sich davon. Mehr als zehn Minuten brauchen Sie bestimmt nicht. Die Stelle ist nicht weit von hier entfernt; ich habe sie bei der Landung von der Rakete aus gesehen.«
»Na, was sollen denn die ernsten Gesichter?« Mit schnellen Bewegungen schöpfte Mrs. Hathaway Suppe in die Teller. »Lächeln Sie; wir sind alle endlich wieder beieinander, die Reise ist vorbei, und es ist fast schon wie zu Hause!«
»Ja.« Kapitän Wilder lachte. »Sie sehen auch wirklich sehr gesund und jugendlich aus, Mrs. Hathaway!«
»Sie Schmeichler!«
Er sah zu, wie sie weiterging; ihr warmes rosa Gesicht war so glatt wie ein Apfel, faltenlos und sanft getönt. Nach jedem Scherz ließ sie ihr melodisches Lachen ertönen, teilte den Salat aus und gönnte sich keine Atempause. Und der hagere Sohn und die wohlgerundeten Töchter waren schlagfertig und fröhlich wie ihr Vater und erzählten von den langen Jahren und ihrem abgeschiedenen Leben, während der Vater jedem seiner Kinder stolz zunickte.
Williamson eilte den Hügel hinab.
»Wohin will der!« fragte Hathaway.
»Er muß nach der Rakete sehen«, sagte Wilder. »Wie ich eben schon sagte, Hathaway, der Jupiter bietet nichts, absolut nichts für den Menschen. Das gilt ebenso für Saturn und Pluto.« Wilder redete mechanisch, ohne seine Worte zu hören, während er an Williamson dachte, der den Hügel hinablief und bald zurückkehren mußte mit dem Bericht über seinen Fund.
»Danke.« Marguerite Hathaway füllte sein Wasserglas. Impulsiv berührte er ihren Arm. Sie schien die Geste gar nicht wahrzunehmen. Ihr Fleisch fühlte sich warm und weich an.
Auf der anderen Seite des Tisches verstummte Hathaway von Zeit zu Zeit, fuhr sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Brust und lauschte dann wieder auf das Murmeln der Stimmen, die manchmal plötzlich lauter zu werden schienen und sich wieder abschwächten, und von Zeit zu Zeit sah er Wilder bekümmert an, dem der Honigkuchen nicht zu schmecken schien.
Williamson kehrte zurück. Er setzte sich und aß ein paar Bissen, bis sich der Kapitän flüsternd an ihn wandte: »Na?«
»Ich hab’s gefunden, Sir.«
»Und?«
Williamsons Gesicht war blaß. Seine Augen waren starr auf die lachenden Menschen gerichtet. Die Töchter lächelten feierlich, und der Sohn erzählte gerade einen Witz. Williamson sagte: »Ich bin also zu dem Friedhof gegangen.«
»Und da sind vier Kreuze?«
»Ja, da sind vier Kreuze, Sir. Die Namen stehen drauf. Um sicherzugehen, hab ich sie aufgeschrieben.« Er las sie von einem Stück Papier ab: »Alice, Marguerite, Susan, John Hathaway, gestorben im Juli 2007 an einem unbekannten Virus.«
»Danke, Williamson.« Wilder schloß die Augen.
»Neunzehn Jahre ist das her, Sir.« Williamsons Hand zitterte.
»Ja.«
»Wer sind dann die da drüben?« »Ich weiß es nicht.«
»Was wollen Sie tun?«
»Das weiß ich auch nicht.«
»Sagen wir’s den anderen?«
»Später. Essen Sie weiter, als ob nichts geschehen wäre.«
»Ich bin aber nicht mehr hungrig, Sir.«
Zum Abschluß des Essens gab es Wein aus den Beständen der Rakete. Hathaway erhob sich. »Ein Toast auf Sie alle - es tut gut, wieder unter Freunden zu sein. Und auf meine Frau und meine Kinder, ohne die ich nicht hätte überleben können. Nur ihrer Freundlichkeit und Fürsorge ist es zu verdanken, daß ich weiterleben, daß ich auf Ihr Kommen warten konnte.« Er hob das Weinglas und trank seiner Familie zu, die seinen Blick unsicher erwiderte und schließlich zu Boden sah, als alle tranken.
Hathaway leerte sein Glas. Er gab keinen Laut von sich, als er plötzlich nach vorn über den Tisch fiel und zu Boden stürzte. Mehrere Männer eilten sofort herbei und legten ihn auf den Rücken. Der Arzt beugte sich über ihn und lauschte. Wilder berührte den Arzt an der Schulter. Der Arzt schaute auf und schüttelte den Kopf. Der Kapitän kniete hin und nahm die Hand des alten Mannes. »Wilder?« Hathaways Stimme war kaum zu verstehen. »Ich hab allen die Stimmung verdorben.«
»Unsinn.«
»Sagen Sie Alice und den Kindern für mich Lebewohl.«
»Einen Moment, ich rufe sie.«
»Nein, nicht!« sagte Hathaway schweratmend. »Sie würden es nicht verstehen. Ich möchte auch nicht, daß sie es verstehen. Nicht!«
Wilder rührte sich nicht von der Stelle.
Hathaway war tot.
Wilder verharrte sehr lange. Dann stand er auf und verließ die Gruppe, die starr und stumm um Hathaway herumstand. Er ging zu Alice Hathaway, blickte ihr in die Augen und fragte: »Wissen Sie, was eben geschehen ist?«
»Etwas mit meinem Mann?«
»Er ist gestorben; sein Herz«, sagte Wilder und ließ ihren Blick nicht los.
»Es tut mir leid«, sagte sie.
»Wie ist Ihnen zumute?« fragte er.
»Er wollte nicht, daß wir uns grämen. Er hat gesagt, daß es eines Tages passieren würde und daß wir dann nicht weinen sollten. Er hat es uns auch gar nicht beigebracht. Er wollte nicht, daß wir weinen konnten. Er sagte, das Schlimmste, was einem Menschen widerfahren könnte, wären Einsamkeit und Traurigkeit und Tränen. Also sollten wir nicht wissen, was Weinen ist oder Traurigsein.«
Wilder betrachtete ihre Hände, die weichen, wannen Hände und die gepflegten Nägel und ihre schmalen Handgelenke. Er betrachtete ihren schlanken, glatten weißen Hals und sah ihr in die intelligenten Augen. Schließlich sagte er: »Hathaway hat mit Ihnen und den Kindern etwas Großartiges geschaffen.«
»Dieses Urteil hätte ihm sicher große Freude gemacht. Er war so stolz auf uns. Mit der Zeit vergaß er sogar, daß er uns gebaut hatte. Und schließlich liebte er uns und sah uns als seine wirkliche Familie an. Und in gewisser Hinsicht sind wir das ja auch.«
»Sie haben ihm viel Trost gespendet.«
»Ja, jahrelang haben wir dagesessen und uns unterhalten. Er redete so gern. Er mochte die Steinhütte und das offene Feuer. Wir hätten in einem ganz normalen Haus in der Stadt wohnen können, aber es gefiel ihm hier oben, wo er sich je nach Laune primitiv oder modern geben konnte. Er erzählte mir alles über sein Laboratorium und die Dinge, die er darin tat.
Überall in der toten amerikanischen Stadt da unten brachte er Lautsprecher an. Wenn er auf einen Knopf drückte, wurde die Stadt erleuchtet, und es wurden Geräusche erzeugt, als ob sie zehntausend Einwohner hätte; Flugzeug- und Autolärm und Stimmengewirr. Dann saß er da und zündete sich eine Zigarre an und unterhielt sich mit uns, und die Geräusche der Stadt drangen herauf, und ab und zu klingelte das Telefon, und eine Stimme auf Tonband stellte Mr. Hathaway wissenschaftliche und medizinische Fragen, und er beantwortete sie. Und das klingelnde Telefon und wir und die Geräusche der Stadt und seine Zigarre - all das machte Mr. Hathaway sehr glücklich. Nur eins konnte er uns nicht vermitteln«, sagte sie. »Und das war das Altwerden. Er selbst wurde von Tag zu Tag älter, während wir uns nicht veränderten. Ich nehme an, es hat ihm nichts ausgemacht. Er wollte es wohl so.«