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In allen geweihten Tempeln im gesamten Radchaai-Territorium warf jeden Morgen eine Priesterin (die als Standesbeamtin auch für das Register der Geburten, der Todesfälle und aller möglichen Verträge zuständig war) die Omen des Tages. Haushalte und Einzelpersonen nahmen manchmal ihre eigenen Omendeutungen vor, und man war nicht verpflichtet, den offiziellen Deutungen beizuwohnen — aber es war immer ein guter Anlass, um zu sehen und gesehen zu werden, um sich mit Freundinnen und Nachbarinnen zu unterhalten und Klatsch zu hören.

Es gab bisher keinen offiziellen Tempel in Ors — sie waren alle in erster Linie Amaat geweiht, allen anderen einheimischen Gottheiten maß man weniger Bedeutung zu, und die Oberpriesterin der Ikkt hatte noch keine klare Eingebung gehabt, wie sie ihre Göttin im eigenen Tempel herabstufen oder wie sich Ikkt so eng mit Amaat identifizieren ließ, dass die Rituale der Radchaai mit ihren eigenen verbunden werden konnten. Also diente vorläufig Leutnantin Awns Haus diesem Zweck. Jeden Morgen entfernten die Blumenträgerinnen des provisorischen Tempels die verwelkten Blumen um Amaats Ikone und ersetzten sie durch frische — gewöhnlich von einem einheimischen Gewächs mit kleinen hellrosafarbenen dreiblättrigen Blüten, das im Dreck an den äußeren Ecken von Gebäuden oder in den Ritzen zwischen Platten wuchs und eigentlich Unkraut war, aber bei Kindern sehr beliebt war. Und seit kurzem blühten im See auch blauweiße Lilien mit kleinen Knospen, vor allem in der Nähe der mit Bojen verbarrikadierten Sperrzonen.

Danach legte Leutnantin Awn das Tuch zur Deutung des Wurfs der Omen aus, die aus einer Handvoll schwerer Metallscheiben bestanden. Diese und die Ikonen waren Leutnantin Awns persönlicher Besitz, ein Geschenk ihrer Eltern zum Bestehen der Eignungsprüfung und anlässlich ihrer ersten Mission.

Manchmal kamen nur Leutnantin Awn und die Dienerinnen des Tages zum morgendlichen Ritual, aber meistens waren auch andere zugegen. Die Medizinerin der Stadt, ein paar Radchaai, denen hier ein Grundstück zugeteilt worden war, andere Kinder von Ors, die man nicht dazu bringen konnte, zur Schule zu gehen oder rechtzeitig dort zu sein, denen das Glitzern und Klingeln der Scheiben beim Fallen sehr gefiel. Manchmal kam sogar die Oberpriesterin der Ikkt — wie Amaat untersagte es deren Göttin ihren Anhängerinnen nicht, zu anderen Göttinnen zu beten.

Wenn die Omen gefallen waren und auf dem Tuch zur Ruhe kamen (oder zum Schrecken der Zuschauer vom Tuch irgendwohin rollten, wo sie schwer zu deuten waren), musste die amtierende Priesterin das Muster herauslesen, es der zugehörigen Textpassage zuordnen und diese den Anwesenden vortragen. Manchmal war Leutnantin Awn nicht dazu imstande. Dann warf sie die Scheiben, ich beobachtete, wie sie fielen, und übermittelte ihr dann die passenden Worte. Immerhin war die Gerechtigkeit der Torren fast zweitausend Jahre alt und hatte fast jede mögliche Anordnung erlebt.

Nach dem Ritual frühstückte sie — normalerweise eine Scheibe Brot vom jeweils vorhandenen einheimischen Getreide und (echten) Tee — und nahm dann auf einer Matte auf der Plattform Platz, bereit für die täglichen Gesuche und Beschwerden.

»Jen Shinnan lädt Sie für heute Abend zum Essen ein«, sagte ich am nächsten Morgen zu ihr. Ich frühstückte ebenfalls, reinigte die Waffen, ging durch die Straßen und grüßte alle, die mich ansprachen.

Jen Shinnan lebte in der Oberstadt, war vor der Annexion die wohlhabendste Person in Ors gewesen und kam gleich nach der Oberpriesterin der Ikkt, was den gesellschaftlichen Einfluss betraf. Leutnantin Awn mochte sie nicht. »Ich nehme an, ich habe keine gute Ausrede, um abzulehnen.«

»Ich wüsste keine«, sagte ich. Gleichzeitig stand ich an der Grenze des Hausgrundstücks, halb auf der Straße, und schaute mich um. Eine Orsai näherte sich, sah mich und wurde langsamer. Sie blieb etwa acht Meter vor mir stehen, tat so, als würde sie etwas anderes irgendwo über mir betrachten.

»Sonst noch etwas?«, fragte Leutnantin Awn.

»Die Distriktmagistratin bestätigt die offizielle Haltung in Bezug auf die Fischreservate in den Sümpfen von Ors …«

Leutnantin Awn seufzte. »Ja, natürlich.«

»Wie kann ich Ihnen helfen, Bürger?«, fragte ich die Person, die immer noch zögernd auf der Straße stand. Die bevorstehende Geburt ihrer ersten Enkeltochter war ihren Nachbarinnen noch nicht mitgeteilt worden, also tat ich, als würde ich es auch nicht wissen, und sprach sie mit der einfachen Höflichkeitsform an, die man gegenüber männlichen Personen benutzte.

»Ich wünschte«, fuhr Leutnantin Awn fort, »die Distriktmagistratin würde persönlich hierherkommen und versuchen, sich von altem Brot und diesem widerlichen eingemachten Gemüse zu ernähren, das sie uns schicken. Wie würde sie es wohl finden, dass Fischen ausgerechnet da verboten ist, wo all die Fische sind?«

Die Orsai auf der Straße zuckte erschrocken zusammen, sah für einen Moment so aus, als wollte sie kehrtmachen und gehen, doch dann überlegte sie es sich anders. »Einen guten Morgen, Radchaai«, sagte sie ruhig und kam näher. »Auch dem Leutnant.« Orsai konnten sehr direkt sein, wenn ihnen danach war, und manchmal auch merkwürdig zurückhaltend.

»Ich weiß, dass es dafür einen Grund gibt«, sagte Leutnantin Awn zu mir. »Und sie hat recht, aber trotzdem.« Sie seufzte wieder. »Noch etwas?«

»Denz Ay ist draußen und möchte Sie sprechen.« Während ich es sagte, lud ich Denz Ay ein, ins Haus zu treten.

»Worüber?«

»Das wollte sie mir nicht sagen.« Leutnantin Awn gestikulierte Einverständnis, und ich führte Denz Ay um die Trennwände herum. Sie verbeugte sich und setzte sich vor Leutnantin Awn auf die Matte.

»Guten Morgen, Bürgerin«, sagte Leutnantin Awn. Ich übersetzte.

»Guten Morgen, Leutnant.« Sie tastete sich langsam heran, machte erst eine Bemerkung zur Hitze und zum wolkenlosen Himmel, erkundigte sich dann nach Leutnantin Awns Gesundheit, tratschte ein wenig, bis sie endlich zu ihrem Anliegen kam. »Ich … ich habe da einen Freund, Leutnant.« Sie hielt inne.

»Ja?«

»Und gestern Abend war mein Freund fischen.« Denz Ay verstummte wieder.

Leutnantin Awn wartete drei Sekunden, und als nichts mehr zu kommen schien, fragte sie: »Hat Ihre Freundin viel gefangen?« Wenn sie in dieser Stimmung waren, ließen sich Orsai selbst durch direkte Fragen oder Bitten nicht dazu bringen, auf den Punkt zu kommen.

»N… nicht viel«, sagte Denz Ay. Dann blitzte kurz Verärgerung auf ihrem Gesicht auf. »Die besten Plätze zum Fischen befinden sich, wie Sie wissen, unweit der Brutgebiete, aber die sind alle gesperrt.«

»Ja«, sagte Leutnantin Awn. »Ihre Freundin würde doch bestimmt nie illegal fischen.«

»Nein, nein, natürlich nicht«, protestierte Denz Ay. »Aber … ich möchte nicht, dass er Ärger bekommt … aber manchmal gräbt er nach Knollen. In der Nähe der Sperrzonen.«

Es gab kaum noch Pflanzen, die in der Nähe der Sperrzonen essbare Wurzelknollen hervorbrachten — sie waren alle vor Monaten, wenn nicht schon länger, ausgegraben worden. Innerhalb der Sperrzonen gingen Wilderer viel vorsichtiger vor, denn wenn sich die Pflanzen zu auffällig verminderten oder ganz verschwanden, wären wir gezwungen, der Sache nachzugehen, und müssten die Gebiete besser bewachen. Leutnantin Awn wusste das. Alle in der Unterstadt wussten es.

Leutnantin Awn wartete das Ende der Geschichte ab, ärgerte sich nicht zum ersten Mal über die Neigung der Orsai, sich einem Thema auf Umwegen anzunähern, doch es gelang ihr, sich nichts anmerken zu lassen. »Wie ich gehört habe, schmecken sie sehr gut«, wagte sie sich vor.