Andererseits empfand Leutnantin Awn stets Unbehagen, wenn sie Jen Shinnan besuchte. Sie mochte Jen Shinnan nicht, und obwohl natürlich niemals darüber gesprochen wurde, war es sehr wahrscheinlich, dass auch Jen Shinnan Leutnantin Awn nicht besonders mochte. Eine solche Einladung war nicht mehr als eine gesellschaftliche Notwendigkeit, da Leutnantin Awn die hiesige Vertreterin der Radchaai-Herrschaft war. An diesem Abend war die Runde ungewöhnlich klein, nur Jen Shinnan, eine Cousine von ihr sowie Leutnantin Awn und Leutnantin Skaaiat. Leutnantin Skaaiat befehligte Sieben Issa der Gerechtigkeit der Ennte und verwaltete die Region zwischen Ors und Kould Ves — hauptsächlich Ackerland, wo Jen Shinnan und ihre Cousine Landbesitz hatten. Leutnantin Skaaiat und ihre Soldatinnen assistierten uns während der Pilgersaison, sodass sie in Ors fast so gut bekannt war wie Leutnantin Awn.
»Sie haben meine gesamte Ernte konfisziert«, sagte die Cousine von Jen Shinnan, die Besitzerin von mehreren Tamarindengärten nicht weit von der Oberstadt. Sie tippte energisch mit ihrem Besteck gegen ihren Teller. »Die gesamte Ernte.«
Mitten auf dem Tisch standen Tabletts und Schüsseln voller Eier, Fisch (nicht aus dem sumpfigen See, sondern aus dem weiter entfernten Meer), gewürztem Hühnchenfleisch, Brot, gedünstetem Gemüse und einem halben Dutzend Würzsaucen unterschiedlichster Art.
»Hat man Sie nicht bezahlt, Bürgerin?« Leutnantin Awn sprach langsam und sorgfältig, wie sie es immer tat, wenn sie sich Sorgen machte, dass ihr Akzent durchschimmern mochte. Sowohl Jen Shinnan als auch ihre Cousine sprachen Radchaai, sodass eine Übersetzung nicht nötig war und sie auch nicht auf Geschlecht oder Status oder irgendetwas anderes achten mussten, das auf Tanmind oder Orsianisch von Bedeutung gewesen wäre.
»Nun ja, aber ich hätte gewiss mehr bekommen, wenn ich damit nach Kould Ves gegangen wäre und es persönlich verkauft hätte!«
Es hatte eine Zeit gegeben, in der eine Landbesitzerin wie sie frühzeitig erschossen worden wäre, damit eine andere Klientin ihre Plantage übernehmen konnte. Tatsächlich waren nicht wenige Shis’urnai im Anfangsstadium der Annexion gestorben, nur weil sie im Weg waren, wobei im Weg viele verschiedene Dinge bedeuten konnte.
»Wie Sie zweifellos verstehen, Bürgerin«, sagte Leutnantin Awn, »ist die Lebensmittelverteilung ein Problem, mit dessen Lösung wir weiterhin beschäftigt sind, und bis das geschehen ist, muss jede von uns Entbehrungen ertragen.« Wenn sie sich nicht wohlfühlte, wurden ihre Sätze uncharakteristisch förmlich und manchmal auf gefährliche Weise verschachtelt.
Jen Shinnan deutete auf einen vollen Servierteller aus zerbrechlichem blassrosafarbenem Glas. »Noch ein gefülltes Ei, Leutnantin Awn?«
Leutnantin Awn hob eine Hand, die anständig in einem Handschuh steckte. »Sie sind köstlich, aber danke, nein, Bürgerin.«
Doch die Cousine war auf einen Kurs geraten, von dem sie nur schwer abweichen konnte, trotz Jen Shinnans diplomatischem Versuch, sie davon abzubringen. »Schließlich ist Obst keine Notwendigkeit. Und schon gar nicht Tamarinden! Außerdem leidet niemand Hunger.«
»So ist es!«, stimmte Leutnantin Skaaiat ihr von Herzen zu. Sie schenkte Leutnantin Awn ein strahlendes Lächeln. Mit ihrer dunklen Haut, den goldenen Augen und dem aristokratischen Aussehen war Leutnantin Skaaiat das Gegenteil von Leutnantin Awn. Eine ihrer Sieben Issas stand in meiner Nähe, vor der Tür zum Esszimmer, genauso kerzengerade und still wie ich.
Obwohl Leutnantin Awn Leutnantin Skaaiat sehr mochte und ihren Sarkasmus in dieser Situation zu schätzen wusste, konnte sie sich nicht dazu überwinden, mit einem Lächeln zu antworten. »Nicht in diesem Jahr.«
»Deine Geschäfte laufen besser als meine, Cousine«, sagte Jen Shinnan in beschwichtigendem Tonfall. Auch sie besaß Ackerland nicht weit von der Oberstadt. Aber ihr hatten auch die Schwimmbagger gehört, die reglos und still auf dem Sumpfwasser lagen. »Auch wenn ich mich vermutlich nicht allzu sehr beklagen kann, war es doch recht viel Mühe für wenig Ertrag.«
Leutnantin Awn öffnete den Mund zu einer Erwiderung und schloss ihn dann wieder. Leutnantin Skaaiat sah es und sagte mit mühelos klar und präzise ausgesprochenen Vokalen: »Was heißt das? Weitere drei Jahre Fischereiverbot, Leutnantin?«
»Ja«, sagte Leutnantin Awn.
»Dumm«, sagte Jen Shinnan. »Gut gemeint, aber dumm. Sie haben gesehen, wie es war, als Sie eintrafen. Sobald sie die Sperrzonen öffnen, werden sie wieder leer gefischt sein. Die Orsai mögen einst ein großes Volk gewesen sein, aber sie sind nicht mehr das, was ihre Vorfahren waren. Sie haben keinen Ehrgeiz, sind immer nur auf den kurzfristigen Vorteil bedacht. Wenn man ihnen zeigt, wer die Chefin ist, können sie recht gehorsam sein, wie Sie zweifellos bemerkt haben, Leutnantin Awn, aber in ihrem natürlichen Zustand sind sie bis auf ein paar wenige Ausnahmen träge und abergläubisch. Auch wenn das vermutlich an einem Leben in der Unterwelt liegt.« Sie lächelte über ihren eigenen Witz. Ihre Cousine lachte unverblümt.
Die weltraumbewohnenden Nationen von Shis’urna unterschieden drei Teile des Universums. In der Mitte lag die natürliche Umwelt der Menschen — Raumstationen, Raumschiffe, konstruierte Habitate. Außerhalb davon war die Schwärze — der Himmel, das Reich der Gottheit und aller heiligen Dinge. Und innerhalb der Schwerkraftsenke des Planeten Shis’urna selbst — genauso wie in der jedes anderen Planeten — lag die Unterwelt, das Land der Toten, aus dem die Menschheit flüchten musste, um sich gänzlich von ihrem dämonischen Einfluss zu befreien.
Hier wird deutlich, dass die Vorstellung der Radchaai von einem Universum, das mit der Gottheit identisch ist, eine große Ähnlichkeit mit der tanmindischen Idee der Schwärze hat. Vielleicht wird aber auch verständlich, warum es in den Ohren der Radchaai ein wenig seltsam klingt, dass Leute, deren Glaube eine Schwerkraftsenke mit dem Land der Toten gleichsetzt, andere Leute als abergläubisch bezeichnen, weil sie eine Echse verehren.
Leutnantin Awn brachte ein höfliches Lächeln zustande, und Leutnantin Skaaiat sagte: »Und dennoch leben auch Sie hier.«
»Ich neige nicht dazu, abstrakte philosophische Ideen mit der Realität zu verwechseln«, sagte Jen Shinnan. Obwohl auch das seltsam für eine Radchaai klang, die wusste, was es für einen tanmindischen Stationsbewohner bedeutete, in die Unterwelt hinabzusteigen und zurückzukehren. »Ernsthaft. Ich habe da eine Theorie.«
Leutnantin Awn, die bereits mehrere tanmindische Theorien über die Orsai kennengelernt hatte, wahrte einen neutralen, sogar ein wenig neugierigen Ausdruck und sagte höflich: »Aha?«
»Erzählen Sie uns davon!«, wurde sie von Leutnantin Skaaiat ermutigt. Die Cousine, die sich vor wenigen Augenblicken einen Bissen Hühnchenfleisch in den Mund gesteckt hatte, machte eine zustimmende Geste mit ihrem Besteck.
»Es geht darum, wie sie leben, völlig im Freien, ohne Schutz außer einem Dach«, sagte Jen Shinnan. »Sie können keine Privatsphäre haben, kein Gefühl für sich selbst als reale Individuen entwickeln, verstehen Sie, ohne Sinn für irgendeine separate Identität.«
»Ganz zu schweigen vom Privateigentum«, sagte Jen Taa, nachdem sie den Bissen hinuntergeschluckt hatte. »Sie glauben, sie können einfach hereinspazieren und sich nehmen, was sie wollen.«
Es gab sehr wohl Regeln — wenn auch ungeschriebene —, wie man ohne Einladung ein Haus betrat, und Diebstahl war in der Unterstadt kaum ein Problem. Gelegentlich während der Pilgersaison schon, aber sonst fast nie.
Jen Shinnan gestikulierte Zustimmung. »Und hier muss im Grunde nie jemand tatsächlich hungern, Leutnantin. Niemand muss arbeiten, man geht einfach im Sumpf fischen. Oder man nimmt während der Pilgersaison Besucherinnen aus. Sie haben keine Gelegenheit, irgendwelche Ambitionen zu entwickeln, oder den Wunsch, sich zu verbessern. Und so können sie nie irgendeine Art von Kultiviertheit entwickeln, irgendeine Art von …« Sie verstummte, auf der Suche nach dem richtigen Wort.