»Also wurden die Shis’urnai, als die Herrin von Mianaai ihnen den Bürgerstatus verlieh, in genau diesem Augenblick zivilisiert.« Der Satz war ein logischer Zirkel — es war sehr schwierig, in dieser Sprache die Frage zu formulieren, die Leutnantin Awn stellen wollte. »Ich meine, irgendwann schießen Ihre Issas auf Leute, weil sie nicht respektvoll genug zu ihnen gesprochen haben — und sagen Sie mir nicht, dass so etwas nie geschehen ist, weil ich weiß, dass es so war und noch viel schlimmer —, und das alles spielte keine Rolle, weil sie keine Radchaai waren, weil sie nicht zivilisiert waren.« Leutnantin Awn griff teilweise auf ihr bekannte Begriffe aus der einheimischen orsianischen Sprache zurück, weil sie mit Radchaai-Worten nicht ausdrücken konnte, was sie sagen wollte. »Und alle Maßnahmen sind im Namen der Zivilisation gerechtfertigt.«
»Nun«, sagte Leutnantin Skaaiat, »Sie müssen zugeben, dass es effektiv war. Heutzutage werden wir alle mit großem Respekt angesprochen.« Leutnantin Awn schwieg. Sie war nicht amüsiert. »Wie ist es dazu gekommen?« Leutnantin Awn erzählte ihr von ihrem Gespräch mit der Oberpriesterin am Vortag.
»Ah. Gut. Seinerzeit haben Sie nicht protestiert.«
»Was hätte es genützt?«
»Absolut gar nichts«, antwortete Leutnantin Skaaiat. »Aber das ist nicht der Grund, warum Sie es nicht getan haben. Außerdem … auch wenn die Hilfseinheiten keine Leute verprügeln oder bestechlich sind oder vergewaltigen oder im Affekt Leute erschießen … diese Personen, die von menschlichen Soldatinnen erschossen wurden … vor hundert Jahren wären sie in Suspension eingelagert worden, um für künftige Hilfseinheitensegmente verwendet zu werden. Wissen Sie, wie viele wir noch eingelagert haben? Die Frachträume der Gerechtigkeit der Torren dürften mit genügend Hilfseinheiten für die nächsten eine Million Jahre gefüllt sein. Wenn nicht länger. Diese Leute sind so gut wie tot. Was ist also der Unterschied? Auch wenn es Ihnen nicht gefallen wird, sage ich Ihnen jetzt die Wahrheit: Luxus gibt es immer nur auf Kosten anderer. Einer der vielen Vorteile der Zivilisation ist, dass man das im Allgemeinen nicht sehen muss, wenn man es nicht sehen möchte. Man hat die Freiheit, den Nutzen zu genießen, ohne das eigene Gewissen zu belasten.«
»Es belastet Ihres nicht?«
Leutnantin Skaaiat lachte fröhlich, als würden sie über ein ganz anderes Thema diskutieren, ein Brettspiel oder ein gutes Teegeschäft. »Wenn man mit dem Wissen aufwächst, dass man es verdient hat, ganz oben zu stehen, dass die geringeren Häuser nur existieren, um der ruhmreichen Bestimmung des eigenen Hauses zu dienen, dann betrachtet man solche Dinge als selbstverständlich. Man wird mit der Überzeugung geboren, dass andere für die Kosten des eigenen Lebens bezahlen. So ist es nun mal. Was während der Annexion geschieht, ist ein gradueller Unterschied, kein essenzieller.«
»So kommt es mir nicht vor«, erwiderte Leutnantin Awn knapp und verbittert.
»Nein, natürlich nicht«, sagte Leutnantin Skaaiat in freundlicherem Tonfall. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie Leutnantin Awn wirklich mochte. Ich wusste, dass Leutnantin Awn sie mochte, auch wenn Leutnantin Skaaiat manchmal Dinge sagte, die sie ärgerten, wie an diesem Abend. »Ihre Familie hat einen Teil dieser Kosten bezahlt, wie gering er auch immer sein mag. Vielleicht fällt es Ihnen deshalb leichter, Sympathie für jene aufzubringen, die für Sie bezahlen. Und ich bin mir sicher, dass es Ihnen schwerfällt, nicht daran zu denken, was Ihre eigenen Vorfahren durchgemacht haben, als sie annektiert wurden.«
»Ihre Vorfahren wurden niemals annektiert«, sagte Leutnantin Awn in beißendem Tonfall.
»Nun, einige wahrscheinlich doch«, räumte Leutnantin Skaaiat ein. »Aber sie sind nicht in der offiziellen Genealogie aufgeführt.« Sie hielt an und zwang Leutnantin Awn, neben ihr stehen zu bleiben. »Awn, meine gute Freundin. Machen Sie sich keine Sorgen um Dinge, an denen Sie nichts ändern können. Die Dinge sind, wie sie sind. Sie müssen sich keine Selbstvorwürfe machen.«
»Sie haben gerade gesagt, dass wir alle das tun.«
»Das habe ich nicht gesagt.« Leutnantin Skaaiats Stimme klang sanft. »Aber Sie werden es trotzdem so verstehen, nicht wahr? Hören Sie, das Leben wird hier besser werden, weil wir hier sind. Es ist bereits besser geworden, nicht nur für jene, die hier leben, sondern auch für jene, die transplantiert wurden. Und selbst für Jen Shinnan, obwohl sie in diesem Moment völlig mit ihrem Ärger darüber beschäftigt ist, dass sie nicht mehr die höchste Autorität in Ors darstellt. Irgendwann wird sie sich damit abgefunden haben. Sie alle.«
»Und die Toten?«
»Sind tot. Es hat keinen Sinn, sich über sie den Kopf zu zerbrechen.«
5
Als Seivarden erwachte, war sie unruhig und gereizt. Sie fragte mich zweimal, wer ich war, und beschwerte sich dreimal, dass meine Antwort — die in jedem Fall eine Lüge war — keine sinnvolle Information für sie enthielt. »Ich kenne niemanden namens Breq. Ich habe Sie nie zuvor gesehen. Wo bin ich?«
An einem Ort ohne Namen. »Sie sind auf Nilt.«
Sie zog eine Decke um ihre bloßen Schultern, um sie dann mürrisch wieder abzuschütteln und die Arme vor der Brust zu verschränken. »Ich habe noch nie von Nilt gehört. Wie bin ich hier gelandet?«
»Ich habe keine Ahnung.« Ich stellte das Essen, das ich in der Hand gehalten hatte, vor ihr auf dem Boden ab.
Sie griff wieder nach der Decke. »Das will ich nicht.«
Ich antwortete mit einer gleichgültigen Geste. Ich hatte gegessen und mich ausgeruht, während sie geschlafen hatte. »Passiert Ihnen so etwas häufiger?«
»Was?«
»Dass Sie aufwachen und feststellen, dass Sie nicht wissen, wo Sie sind, mit wem Sie zusammen sind oder wie Sie an diesen Ort gelangt sind?«
Sie zog sich unruhig die Decke über und wieder ab und rieb die Arme und Handgelenke aneinander. »Einige Male.«
»Ich bin Breq von der Gerentate.« Ich hatte es ihr bereits gesagt, aber mir war klar, dass sie mich erneut danach fragen würde. »Ich habe Sie vor zwei Tagen vor einem Gasthaus gefunden. Ich weiß nicht, wie Sie dorthin gekommen sind. Sie wären gestorben, wenn ich Sie liegen gelassen hätte. Ich möchte mich entschuldigen, falls Ihnen das lieber gewesen wäre.«
Aus irgendeinem Grund machte sie das wütend. »Wie furchtbar charmant von Ihnen, Breq von der Gerentate.« Dabei grinste sie mit leichtem Spott. Es war auf irrationale Weise überraschend, diesen Tonfall von ihr zu hören, nackt und derangiert, wie sie war, und nicht in Uniform.
Dieser Tonfall ärgerte mich. Ich wusste sehr genau, warum ich verärgert war, und genauso wusste ich, dass Seivarden, wenn ich es wagen würde, ihr den Grund für meine Verärgerung zu erklären, lediglich mit Verachtung reagieren würde, was mich noch mehr verärgern würde. Ich wahrte den neutralen, leicht interessierten Gesichtsausdruck, den ich ihr gezeigt hatte, seit sie aufgewacht war, und reagierte mit der gleichen indifferenten Geste wie wenige Augenblicke zuvor.
Ich war das allererste Schiff gewesen, in dem Seivarden gedient hatte. Sie war frisch aus der Ausbildung gekommen, siebzehn Jahre alt, und wurde mitten in die Endphase einer Annexion geworfen. In einem Tunnel, den man durch rotbraunes Gestein unter der Oberfläche eines kleinen Mondes gegraben hatte, wurde ihr befohlen, insgesamt neunzehn Gefangene zu bewachen, die in einer Reihe nackt und zitternd in der Kälte hockten und darauf warteten, evaluiert zu werden.
Eigentlich führte ich die Bewachung durch, zu siebt mit schussbereiten Waffen im Tunnel aufgereiht. Seivarden war damals noch sehr jung gewesen, schlank, mit dunklem Haar und brauner Haut und braunen, unscheinbaren Augen, ganz anders als die aristokratischen Züge ihres Gesichts, einschließlich einer Nase, in die sie noch nicht ganz hineingewachsen war. Ja, sie war nervös, weil man ihr hier nur wenige Tage nach ihrer Ankunft die Verantwortung übergeben hatte, aber auch stolz auf sich und ihre unverhoffte kleine Autorität. Stolz auf die dunkelbraune Uniformjacke, die Hosen, die Handschuhe, die Abzeichen einer Leutnantin. Und, wie ich dachte, ein wenig zu aufgeregt, weil sie eine echte Waffe trug, in einer Situation, die auf gar keinen Fall eine Übung im Rahmen einer Ausbildung war.