Sie verzog spöttisch die Lippen. Sie hatte natürlich recht. Hier zu warten war dumm. Nach so vielen Jahren, nach so viel Planung und Mühe hatte ich versagt.
Trotzdem. »Gehen Sie wieder ins Bett.« Das Bett war der Haufen aus Kissen und Decken neben der Bank, auf der sie saß. Sie sah mich an, immer noch verächtlich und mit leichtem Hohn, dann ließ sie sich auf den Boden gleiten, legte sich hin und zog sich eine Decke über den Körper. Ich war mir sicher, dass sie zuerst gar nicht schlafen wollte. Sie würde überlegen, wie sie verschwinden konnte, wie sie mich überwältigen oder überreden konnte, das zu tun, was sie wollte. Natürlich war jede derartige Planung sinnlos, solange sie noch gar nicht wusste, was sie wollte, aber ich sprach es nicht aus.
Nach weniger als einer Stunde erschlafften ihre Muskeln, und ihr Atem ging langsamer. Wäre sie immer noch meine Leutnantin gewesen, hätte ich mit Sicherheit gewusst, dass sie schlief, in welcher Schlafphase sie sich befand und ob sie träumte oder nicht. Jetzt konnte ich nur die Äußerlichkeiten sehen.
Immer noch misstrauisch setzte ich mich auf den Boden, lehnte mich gegen eine andere Bank und zog mir eine Decke über die Beine. Wie ich es jedes Mal getan hatte, seit ich hier schlief, öffnete ich meinen inneren Mantel und legte eine Hand auf meine Waffe. Dann lehnte ich mich zurück und schloss die Augen.
Zwei Stunden später wurde ich von einem leisen Geräusch geweckt. Ich blieb reglos liegen, die Hand immer noch an der Waffe. Das Geräusch wiederholte sich, ein wenig lauter. Die zweite Tür wurde geschlossen. Ich öffnete die Augen ein winziges Stück. Seivarden lag viel zu still da — sie musste das Geräusch ebenfalls gehört haben.
Durch meine Augenwimpern sah ich eine Person in Außenkleidung. Knapp zwei Meter groß, schlank unter dem dicken doppelten Mantel, mit eisengrauer Haut. Als sie ihre Kapuze zurückschlug, sah ich, dass ihr Haar die gleiche Farbe hatte. Sie war auf gar keinen Fall eine Nilter.
Sie stand da und beobachtete Seivarden und mich sieben Sekunden lang, dann kam sie leise zu mir herüber und bückte sich, um mit einer Hand meinen Rucksack wegzuziehen. In der anderen Hand hielt sie eine Waffe, die auf mich gerichtet war, obwohl sie nicht zu wissen schien, dass ich wach war.
Das Schloss machte sie für einen Moment ratlos, bis sie ein Werkzeug aus der Tasche zog. Damit überlistete sie das Schloss ein wenig schneller, als ich erwartet hatte. Sie zielte weiter mit der Waffe auf mich und warf einen gelegentlichen Blick auf die immer noch reglose Seivarden, während sie meinen Rucksack leerte.
Kleidung zum Wechseln. Munition, aber keine Waffe. Also musste sie vermuten oder sich sicher sein, dass ich bewaffnet war. Drei in Folie verpackte Rationen Konzentratnahrung. Besteck und eine Flasche für Wasser. Eine goldene Scheibe mit fünf Zentimetern Durchmesser und anderthalb Zentimeter dick, die sie mit gerunzelter Stirn betrachtete und dann weglegte. Eine Schachtel, die sie öffnete, um darin Geld zu finden. Sie stieß ein erstauntes Keuchen aus, als ihr klar wurde, wie viel es war, und blickte dann zu mir. Ich rührte mich nicht. Ich wusste nicht, was sie gesucht hatte, aber sie schien es nicht gefunden zu haben, was auch immer es war.
Sie hob die Scheibe wieder auf und setzte sich auf eine Bank, von der aus sie mich und Seivarden gut im Auge behalten konnte. Dann drehte sie die Scheibe um und fand den Auslöser. Die Seiten klappten auf, das Ganze öffnete sich wie eine Blume, und der Mechanismus ließ die Ikone herausspringen, eine Person, die bis auf kurze Hosen und winzige Blüten aus Edelsteinen und Emaille nackt war. Das Bildnis lächelte abgeklärt. Sie hatte vier Arme. In einem hielt sie einen Ball, der andere Arm war von einem zylindrischen Armschutz umschlossen. Die weiteren Hände hielten ein Messer und einen abgetrennten Kopf, von dem Edelsteinblut auf ihre bloßen Füße tropfte. Der Kopf zeigte das gleiche Lächeln tiefer spiritueller Gelassenheit wie sie.
Strigan — es musste Strigan sein — runzelte die Stirn. Die Ikone war eine Überraschung. Sie hatte ihre Neugier noch weiter angestachelt.
Ich öffnete die Augen. Sie fasste die Waffe fester — die Waffe, die ich mir nun so genau wie möglich ansah, nachdem ich die Augen ganz geöffnet hatte und ich ihr nun den Kopf zuwenden konnte.
Strigan hielt mir die Ikone hin und zog eine stahlgraue Augenbraue hoch. »Eine Verwandte?«, fragte sie auf Radchaai.
Ich wahrte eine ansprechende neutrale Miene. »Nicht ganz«, antwortete ich in ihrer Sprache.
»Ich dachte, ich wüsste, was Sie sind, als Sie kamen«, sagte sie nach längerem Schweigen, dankbar, dass ich die Sprache gewechselt hatte. »Ich dachte, ich wüsste, was Sie hier tun. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.« Sie warf einen Blick zu Seivarden, die allem Anschein nach nicht im Geringsten durch unser Gespräch gestört wurde. »Ich glaube zu wissen, wer er ist. Aber wer sind Sie? Was sind Sie? Erzählen Sie mir nichts von Breq von der Gerentate. Sie sind genauso eine Radchaai wie dieser da.« Sie deutete vorsichtig mit dem Ellbogen auf Seivarden.
»Ich bin hierhergekommen, um etwas zu kaufen«, sagte ich, fest entschlossen, nicht auf die Waffe in ihrer Hand zu starren. »Er ist nebensächlich.« Da wir kein Radchaai sprachen, musste ich das Geschlecht berücksichtigen, weil Strigans Sprache es verlangte. Die Gesellschaft, in der sie lebte, bekundete gleichzeitig die Überzeugung, dass Geschlecht unbedeutend war. Männer und Frauen kleideten sich, sprachen und handelten ununterscheidbar. Doch ich war bisher keiner Person begegnet, die in dieser Hinsicht jemals gezögert oder falsch geraten hätte. Und sie hatten ausnahmslos beleidigt reagiert, wenn ich gezögert oder falsch geraten hatte. Ich hatte den Trick noch nicht gelernt. Ich war in Strigans Wohnung gewesen, hatte ihren Besitz gesehen und war mir immer noch nicht sicher, welche Formen ich bei ihr benutzen sollte.
»Nebensächlich?«, fragte Strigan ungläubig. Ich konnte es ihr nicht verübeln. Ich selbst hätte es nicht geglaubt, nur dass ich wusste, dass es die Wahrheit war. Strigan sagte nichts mehr, wahrscheinlich weil ihr klar wurde, dass jedes weitere Wort eine große Dummheit sein konnte, wenn ich das war, was sie befürchtete.
»Ein Zufall«, sagte ich und war zumindest in diesem Punkt froh, dass wir kein Radchaai sprachen, weil das Wort dort Bedeutung implizierte. »Ich habe ihn bewusstlos aufgefunden. Wenn ich ihn liegen gelassen hätte, wäre er gestorben.« Auch das glaubte Strigan mir nicht, ihrem Blick nach zu urteilen. »Warum sind Sie hier?«
Sie lachte, kurz und verbittert, aber ich war mir nicht sicher, ob ich das falsche Geschlecht für das Anredepronomen gewählt hatte oder aus einem anderen Grund. »Ich denke, dass ich diese Frage stellen sollte.«
Wenigstens hatte sie nicht meine Grammatik korrigiert. »Ich bin gekommen, um mit Ihnen zu reden. Um etwas zu kaufen. Seivarden war verletzt. Sie waren nicht da. Ich werde Ihnen natürlich bezahlen, was wir gegessen haben.«
Aus irgendeinem Grund schien sie das zu amüsieren. »Warum sind Sie hier?«, fragte sie.
»Ich bin allein«, beantwortete ich ihre unausgesprochene Frage. »Abgesehen von ihm.« Ich nickte zu Seivarden. Meine Hand lag immer noch an meiner Waffe, und Strigan war vermutlich klar, warum ich diese Hand unter meinem Mantel so ruhig hielt. Seivarden tat weiterhin so, als würde sie schlafen.
Ungläubig schüttelte Strigan langsam den Kopf. »Ich hätte geschworen, Sie wären eine Leichensoldatin.« Eine Hilfseinheit, meinte sie. »Als Sie eintrafen, war ich mir dessen ganz sicher.« Also hatte sie sich in der Nähe versteckt und darauf gewartet, dass wir gingen, und das gesamte Gebäude war von ihr überwacht worden. Sie musste ein übermäßiges Vertrauen in ihr Versteck gehabt haben, denn falls ich wirklich das gewesen wäre, was sie befürchtete, wäre es äußerst dumm gewesen, sich irgendwo in der Nähe aufzuhalten. Ich hätte sie mit Sicherheit aufgespürt. »Aber als Sie sahen, dass hier niemand war, weinten Sie. Und er …« Sie blickte mit einem Schulterzucken zu Seivarden, die entspannt und reglos auf der Pritsche lag.