»Meine Herrin«, sagte Leutnantin Awn, mit furchtsam beschleunigtem Herzschlag, und kniete nieder.
Anaander Mianaai wandte sich ihr mit hochgezogenen Augenbrauen zu.
»Ich bitte meine Herrin um Verzeihung«, sagte Leutnantin Awn. Ihr war leicht schwindlig, entweder vom Gewicht ihrer Uniform in der Hitze oder aus Nervosität. »Ich muss mit Ihnen sprechen.«
Die Augenbrauen wanderten noch höher. »Leutnantin Awn«, sagte sie, »richtig?«
»Ja, meine Herrin.«
»Heute Abend nehme ich an der Wache im Tempel der Ikkt teil. Ich werde morgen früh mit Ihnen sprechen.«
Es dauerte ein paar Augenblicke, bis Leutnantin Awn diese Antwort verdaut hatte. »Meine Herrin, nur auf einen Moment. Ich glaube, das wäre keine gute Idee.«
Die Herrin der Radch neigte neugierig den Kopf. »Ich war davon überzeugt, dass Sie diese Region unter Kontrolle haben.«
»Ja, Herrin, es ist nur …« Leutnantin Awn hielt inne, in leichter Panik, für eine Sekunde außerstande zu sprechen. »Die Beziehungen zwischen der Ober- und Unterstadt sind derzeit …« Wieder hielt sie inne.
»Kümmern Sie sich um Ihre Aufgaben«, sagte Anaander Mianaai. »Und ich werde mich um meine kümmern.« Sie wandte sich von Leutnantin Awn ab.
Eine öffentliche Kränkung. Und sie war unerklärlich, denn es gab keinen Grund, warum die Herrin der Radch nicht auf ein paar dringliche Momente mit der Offizierin reden sollte, die für die lokale Sicherheit zuständig war. Und Leutnantin Awn hatte nichts getan, um sich eine solche Kränkung zu verdienen. Zuerst dachte ich, das wäre der einzige Grund für die Bestürzung, die mir durch die Daten von Leutnantin Awn übermittelt wurde. Der Waffenfund konnte genauso gut am nächsten Morgen kommuniziert werden, und für den Augenblick schien es keine anderen Probleme zu geben. Doch als die Herrin der Radch durch die Oberstadt gelaufen war, hatte sich die Neuigkeit von Anaander Mianaais Anwesenheit verbreitet, wie es natürlich zu erwarten war, und die Bewohner der Oberstadt waren aus ihren Häusern gekommen und versammelten sich allmählich am nördlichen Rand des Vortempelteichs, um die Herrin der Radch zu sehen, die wie eine Orsai gekleidet war und mit der Göttlichen vor dem Tempel der Ikkt stand. Und als ich dem Gemurmel der Menge lauschte, wurde mir bewusst, dass die Waffen in diesem Augenblick nur von sekundärer Bedeutung waren.
Die Tanmind aus der Oberstadt waren wohlhabend und gut genährt, und sie waren die Besitzer von Geschäften und Farmen und Tamarindengärten. Selbst in den labilen Monaten nach der Annexion, als Vorräte knapp und Lebensmittel teuer gewesen waren, hatten sie es geschafft, ihre Familien zu versorgen. Als Jen Shinnan vor einigen Abenden gesagt hatte, dass hier niemand verhungert war, hatte sie das wahrscheinlich wirklich geglaubt. Sie hatte keinen Hunger gelitten, auch niemand von den Leuten, die sie gut kannte, fast allesamt wohlhabende Tanmind. Obwohl sie sich beklagten, hatten sie die Annexion relativ unbeschadet überstanden. Und ihre Kinder schnitten gut ab, wenn sie auf ihre Eignung geprüft wurden, und so würde es auch weiterhin sein, wie Leutnantin Skaaiat gesagt hatte.
Doch als dieselben Leute sahen, wie die Herrin der Radch durch die Oberstadt direkt zum Tempel der Ikkt lief, interpretierten sie diese Geste des Respekts vor den Orsai als eine kalkulierte Beleidigung ihres Standes. Das zeigte sich deutlich in ihrem Gesichtsausdruck, in ihren empörten Ausrufen. Das hatte ich nicht vorhergesehen. Vielleicht hatte auch die Herrin der Radch es nicht vorhergesehen. Aber Leutnantin Awn hatte erkannt, dass es geschehen würde, als sie die Göttliche auf dem Boden vor der Herrin der Radch sah.
Ich verließ den Platz und die Straßen der Oberstadt und ging dorthin, wo die Tanmind standen, ein halbes Dutzend vor mir. Ich zog keine Waffen, verzichtete auf Drohungen. Ich sagte lediglich zu jemandem in meiner Nähe: »Gehen Sie nach Hause, Bürgerinnen.«
Die meisten wandten sich ab und gingen. Obwohl ihre Mienen keine Begeisterung zeigten, äußerte niemand einen offenen Protest. Andere brauchten länger, um zu gehen. Vielleicht stellten sie meine Autorität auf die Probe, wenn auch nicht allzu sehr. Alle, die den Mut aufgebracht hatten, so etwas zu tun, waren irgendwann in den vergangenen fünf Jahren erschossen worden oder hatten zumindest gelernt, solche selbstmörderischen Anwandlungen zu unterdrücken.
Die Göttliche, die sich erhob, um Anaander Mianaai in den Tempel zu führen, warf Leutnantin Awn, die immer noch auf den Steinen des Platzes kniete, einen schwer zu deutenden Blick zu. Die Herrin der Radch schenkte ihr nach wie vor keine Beachtung.
7
»Und dann«, sagte Strigan, während wir aßen, ein letzter Punkt in der langen Liste von Klagen gegen die Radchaai, »wäre da noch der Vertrag mit den Presger.«
Seivarden lag still da, die Augen geschlossen, gleichmäßig atmend, verkrustetes Blut auf der Lippe und am Kinn, ein paar Spritzer davon auf der Vorderseite ihres Mantels. Über ihrer Nase und der Stirn lag ein Korrektiv.
»Sie ärgern sich über den Vertrag?«, fragte ich. »Wäre es Ihnen lieber, die Presger wären frei, all das zu tun, was sie schon immer getan haben?« Den Presger war es gleichgültig, ob eine Spezies Intelligenz und Bewusstsein besaß oder nicht. Das Wort, das sie verwendeten — oder zumindest der Begriff, da sie meines Wissens nicht in Worten sprachen —, wurde üblicherweise als Signifikanz übersetzt. Und nur die Presger waren signifikant. Sie hatten das Recht, alle anderen Lebewesen als Beute, Besitz oder Spielzeug zu benutzen. Menschen waren ihnen meistens völlig egal, aber manche von ihnen stoppten gern Schiffe und nahmen sie — und ihren Inhalt — auseinander.
»Es wäre mir lieber, wenn die Radch keine verbindlichen Versprechen im Namen der gesamten Menschheit abgeben würde«, antwortete Strigan. »Wenn sie nicht die Politik für jede einzelne menschliche Verwaltung diktieren würde, um uns dann zu sagen, dass wir ihr dafür dankbar sein sollten.«
»Die Presger verstehen solche Unterscheidungen nicht. Alles oder nichts, etwas anderes kam nicht infrage.«
»Der Radch ging es doch nur darum, ihren Herrschaftsbereich weiter auszudehnen, und das auf eine Weise, die billiger und leichter ist als eine totale Eroberung.«
»Sie wären vielleicht überrascht, dass einigen hochrangigen Radchaai dieser Vertrag genauso zuwider ist wie Ihnen.«
Strigan zog eine Augenbraue hoch und stellte ihren Becher mit stinkender fermentierter Milch ab. »Irgendwie bezweifle ich, dass ich diese hochrangigen Radchaai sympathisch finden würde.« Ihr Tonfall war verbittert und leicht sarkastisch.
»Richtig«, antwortete ich. »Auch ich glaube, dass Sie sie nicht mögen würden. Und sicherlich könnten sie wenig mit Ihnen anfangen.«
Sie blinzelte und betrachtete konzentriert mein Gesicht, als würde sie versuchen, etwas aus meinem Ausdruck herauszulesen. Dann schüttelte sie den Kopf und machte eine wegwerfende Geste. »Was Sie nicht sagen.«
»Wer Ordnung und Zivilisation im Universum schaffen möchte, lässt sich nicht zu Verhandlungen herab. Vor allem nicht mit Nicht-Menschen.« Was eine recht große Zahl von Leuten einschloss, die sich selbst als menschlich betrachteten, aber das war ein Thema, das ich in diesem Augenblick lieber aussparen wollte. »Warum sollte man ein Abkommen mit einem derart unversöhnlichen Feind schließen? Vernichten und fertig.«
»Könnten Sie das?«, fragte Strigan ungläubig. »Hätten Sie die Presger vernichten können?«
»Nein.«
Sie verschränkte die Arme und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Warum führen wir dann überhaupt diese Debatte?«
»Ich dachte, das wäre offensichtlich«, antwortete ich. »Manchen fällt es schwer zuzugeben, dass die Radch fehlbar oder dass ihre Macht begrenzt sein könnte.«
Strigan blickte zur anderen Seite des Raumes, zu Seivarden. »Aber das ist bedeutungslos. Eine Debatte. Als ob eine echte Debatte möglich wäre.«