Ich brachte ihr einen Becher mit fermentierter Milch, und sie zuckte zusammen, als wäre ich plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht. »Bist du verletzt?«, fragte ich sie. Diesmal hatte ich richtig gegendert — ich hatte zuvor gehört, wie Strigan das weibliche Anredepronomen benutzt hatte.
»Ich …« Sie verstummte und betrachtete den Becher Milch, als könnte sie sie beißen. »Nein, nein … nur ein wenig.« Sie schien kurz vor einem Zusammenbruch zu stehen. Vielleicht kam es tatsächlich dazu. Nach Radchaai-Maßstäben war sie noch ein Kind, aber sie hatte gesehen, wie diese Erwachsene verletzt wurde. War sie ein Elternteil, eine Cousine, eine Nachbarin? Jedenfalls hatte sie die Geistesgegenwart besessen, ein wenig Erste Hilfe zu leisten, sie in einen Kriecher zu verfrachten und hierherzukommen. Es wäre keine Überraschung, wenn sie jetzt völlig zusammenbrach.
»Was ist mit dem Eisteufel geschehen?«, fragte ich.
»Ich weiß es nicht.« Sie blickte zu mir auf, vom Milchbecher, den sie immer noch nicht angenommen hatte. »Ich habe ihn getreten. Ich habe mit meinem Messer nach ihm gestochen. Er zog sich zurück. Ich weiß es nicht.«
Ich brauchte ein paar Minuten, um weitere Informationen aus ihr herauszuholen — dass sie den anderen in ihrem Familienlager eine Nachricht hinterlassen hatte, aber dass niemand nahe genug gewesen war, um helfen zu können, um schnell genug zu ihr zu kommen. Während wir sprachen, schien sie sich zu sammeln, zumindest ein bisschen, zumindest so weit, dass sie die Milch annahm, die ich ihr anbot, und davon trank.
Nach einigen Minuten schwitzte sie und zog ihre beiden Mäntel aus, die sie neben sich auf die Bank legte. Dann saß sie still und verlegen da. Mir fiel nichts ein, was ihre Verzweiflung lindern konnte. »Kennst du irgendwelche Lieder?«, fragte ich sie.
Sie blinzelte verdutzt. »Ich bin keine Sängerin«, sagte sie.
Vielleicht war es ein sprachliches Missverständnis. Ich hatte nicht besonders auf die Sitten in diesem Teil der Welt geachtet, aber ich war mir ziemlich sicher, dass man nicht zwischen Liedern unterschied, die jede sang, und solchen, die — normalerweise aus religiösen Gründen — nur von Spezialistinnen gesungen wurden, jedenfalls nicht in den Städten in der Nähe des Äquators. Vielleicht war es hier so weit im Süden anders. »Entschuldige bitte«, sagte ich, »anscheinend habe ich ein falsches Wort benutzt. Wie nennst du es, wenn du arbeitest oder spielst oder versuchst, ein Baby einschlafen zu lassen? Oder nur …«
»Oh!« Das plötzliche Verständnis belebte sie, wenn auch nur für einen Moment. »Du meinst Lieder!«
Ich lächelte aufmunternd, aber sie verfiel wieder in Schweigen. »Versuch dir keine zu großen Sorgen zu machen«, sagte ich. »Strigan ist sehr gut. Und manche Dinge muss man einfach den Gottheiten überlassen.«
Sie saugte ihre Unterlippe ein und biss darauf. »Ich glaube an keinen Gott«, sagte sie mit leichtem Nachdruck.
»Trotzdem. Die Dinge geschehen, wie sie geschehen.« Sie machte eine flüchtige zustimmende Geste. »Spielst du Counters?«, fragte ich. Vielleicht konnte sie mir das Spiel zeigen, für das Strigans Brett gedacht war, obwohl ich bezweifelte, dass es von Nilt stammte.
»Nein.« Und damit hatte ich bereits die wenigen Mittel erschöpft, mit der ich sie hätte unterhalten oder ablenken können.
Nach zehn Minuten Schweigen sagte sie: »Ich habe ein Tiktik-Set.«
»Was ist Tiktik?«
Sie sah mich mit großen runden Augen in ihrem runden, blassen Gesicht an. »Wie kannst du nicht wissen, was Tiktik ist? Du musst von sehr weit weg sein!« Ich stimmte dem zu, und sie fuhr fort: »Das ist ein Spiel. Hauptsächlich ein Spiel für Kinder.« Ihr Tonfall implizierte, dass sie kein Kind war, aber ich wollte sie lieber nicht fragen, warum sie ein Spielset für Kinder dabei hatte. »Du hast wirklich noch nie Tiktik gespielt?«
»Niemals. Dort, woher ich komme, spielen wir meistens Counters und mit Karten und Würfeln. Aber selbst diese Spiele sind an verschiedenen Orten sehr unterschiedlich.«
Darüber dachte sie einen Moment lang nach. »Ich kann es dir beibringen«, sagte sie schließlich. »Es ist ganz einfach.«
Zwei Stunden später, als ich meine Handvoll winziger Würfel aus Bov-Knochen warf, ertönte der Besuchsalarm. Das Mädchen blickte überrascht auf. »Da ist jemand«, sagte ich. Die Tür zur Krankenstation blieb geschlossen, Strigan reagierte nicht auf den Alarm.
»Mama«, sagte das Mädchen mit einem leichten Zittern der Hoffnung und Erleichterung in der Stimme.
»Ich hoffe es. Ich hoffe, dass es kein weiterer Patient ist.« Sofort wurde mir klar, dass ich diese Möglichkeit nicht hätte erwähnen sollen. »Ich werde nachsehen.«
Es war Mama, ohne jeden Zweifel. Sie sprang aus dem Flieger, mit dem sie gekommen war, und rannte mit einem Tempo, das ich nicht für möglich gehalten hätte, durch den Schnee zum Haus. Sie stürmte an mir vorbei, ohne meine Existenz in irgendeiner Weise zur Kenntnis zu nehmen. Sie war recht groß für eine Nilter und breit wie alle, in Mäntel gehüllt, und die Anzeichen für ihre Verwandtschaft zum Mädchen waren ihrem Gesichtsausdruck deutlich anzusehen. Ich folgte ihr nach drinnen.
Als sie das Mädchen sah, das nun neben dem Tiktik-Brett stand, sagte sie: »Und? Was ist?«
Radchaai-Eltern hätten die Arme um ihre Tochter gelegt, sie geküsst, ihr gesagt, wie erleichtert sie waren, dass es ihrer Tochter gutging, und vielleicht hätten sie sogar geweint. Manche Radchaai hätten diese Mutter für kalt und gefühllos gehalten. Aber ich war mir sicher, dass das ein Fehler gewesen wäre. Sie setzten sich zusammen auf eine Bank, wobei sich ihre Körper berührten, und das Mädchen berichtete, was sie über den Zustand der Patientin wusste und was draußen im Schnee mit der Herde und mit dem Eisteufel geschehen war. Als sie fertig war, klopfte die Mutter ihr zweimal auf das Knie, recht forsch, und es hatte den Anschein, als wäre sie plötzlich ein ganz anderes Mädchen, größer und stärker, nachdem sie nun, wie es schien, nicht nur durch die Anwesenheit ihrer Mutter gestärkt und getröstet war, sondern auch deren Anerkennung genoss.
Ich brachte ihnen zwei Becher mit fermentierter Milch, und Mamas Blick zuckte zu mir, aber nicht, wie ich glaubte, weil ich für sie von irgendeinem besonderen Interesse war. »Sie sind nicht der Doktor«, sagte sie, nicht mehr als eine bloße Feststellung. Ich erkannte, dass ihre Aufmerksamkeit immer noch ihrer Tochter galt, ihr Interesse an mir betraf nur die Frage, inwiefern ich eine Gefahr oder eine Hilfe für sie sein mochte.
»Ich bin hier nur zu Gast«, erklärte ich ihr. »Aber der Doktor ist beschäftigt, und ich dachte, Sie möchten vielleicht etwas trinken.«
Ihr Blick ging zu Seivarden, die immer noch schlief, genauso wie in den letzten paar Stunden, mit dem zitternden schwarzen Korrektiv über der Stirn, nur noch ein paar Reste als Flecken um den Mund und die Nase.
»Sie ist von sehr weit weg«, sagte das Mädchen. »Sie hatte keine Ahnung, wie man Tiktik spielt!« Der Blick ihrer Mutter streifte das Set auf dem Boden, die Würfel, das Brett und die flachen bemalten Steine, mitten im Zug erstarrt. Sie sagte nichts, aber ihr Gesichtsausdruck änderte sich, nur ein wenig. Sie nickte fast unmerklich und nahm die Milch von mir an.
Zwanzig Minuten später wachte Seivarden auf, wischte sich das schwarze Korrektiv vom Gesicht und rieb gereizt an ihrer Oberlippe, blickte auf die Krümel aus getrocknetem Blut, die sich gelöst hatten. Sie schaute zu den zwei Nilter, die schweigend Seite an Seite auf einer Bank saßen und sowohl sie als auch mich absichtlich ignorierten. Keine von beiden schien es seltsam zu finden, dass ich nicht zu Seivarden ging oder irgendetwas zu ihr sagte. Ich wusste nicht, ob sie sich erinnerte, warum ich sie geschlagen hatte, oder auch nur, dass ich es getan hatte. Manchmal beeinträchtigt ein Schlag gegen den Kopf die Erinnerung an die Augenblicke kurz davor. Aber sie schien sich entweder erinnert zu haben oder etwas zu vermuten, denn sie vermied es, mich anzusehen. Nachdem sie eine Weile herumgezappelt hatte, stand sie auf und ging zur Küche, wo sie einen Schrank öffnete. Sie starrte dreißig Sekunden lang hinein, nahm sich dann eine Schüssel und hartes Brot, das sie hineinlegte, holte Wasser, das sie darüber goss, und stand dann reglos da, während sie darauf wartete, dass es weich wurde, ohne etwas zu sagen, ohne jemanden anzusehen.