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Zuerst standen die Leute, die ich vom Vortempelteich fortgeschickt hatte, flüsternd in kleinen Gruppen auf der Straße, um sich dann zu zerstreuen, als ich mich ihnen auf meinen regelmäßigen Runden näherte. Aber kurz danach verschwanden alle in ihren Häusern und drängten sich drinnen zusammen. In den nächsten paar Stunden war es still in der Oberstadt. Unheimlich still, und es half auch nicht, dass Leutnantin Awn mich immer wieder fragte, was hier vor sich ging.
Leutnantin Awn war davon überzeugt, dass meine Anwesenheit in der Oberstadt die Situation nur verschlimmern konnte, also wies sie mich stattdessen an, in der Nähe des Platzes zu bleiben. Wenn etwas geschah, war ich da, zwischen der Unter- und der Oberstadt. Das war der Hauptgrund, warum ich immer noch mehr oder weniger effizient funktionierte, als schließlich alles zusammenbrach.
Vier Stunden lang tat sich nichts. Die Herrin der Radch murmelte gemeinsam mit den Priesterinnen der Ikkt Gebete. In der Unterstadt verbreitete ich den dringenden Rat, heute Nacht zu Hause zu bleiben, und infolgedessen gab es keine Gespräche auf den Straßen, keine Gruppen von Nachbarinnen, die sich im Erdgeschoss irgendeines Hauses versammelten, um sich ein Unterhaltungsprogramm anzuschauen. Als es dunkel geworden war, hatten sich fast alle in ein Obergeschoss zurückgezogen, um sich leise zu unterhalten oder schweigend über das Geländer nach draußen zu blicken.
Vier Stunden vor Sonnenaufgang brach alles zusammen — oder genauer gesagt, brach ich zusammen. Die Trackerdaten, die ich überwacht hatte, verstummten, und plötzlich waren alle zwanzig Körper von mir blind, taub und handlungsunfähig. Jedes Segment konnte nur mit einem einzigen Augenpaar sehen, nur mit einem einzigen Ohrenpaar hören, nur einen einzelnen Körper bewegen. Es dauerte einige verwirrte, panische Momente, bis meine Segmente erkannten, dass jedes von allen anderen abgeschnitten war, dass jedes Exemplar von mir allein in einem einzigen Körper war. Und das Schlimmste war, dass im gleichen Augenblick auch keine Daten von Leutnantin Awn mehr kamen.
Ab diesem Moment war ich zwanzig verschiedene Personen, mit zwanzig verschiedenen Beobachtungen und Erinnerungen, und ich kann die Ereignisse nur rekonstruieren, indem ich diese separaten Erfahrungen zusammensetze.
In dem Augenblick, als der Schlag kam, entfalteten alle zwanzig Segmente unverzüglich, ohne darüber nachzudenken, ihre Rüstungen. Jene Segmente, die bekleidet waren, unternahmen gar nicht erst den Versuch, sie zu modifizieren, um irgendeinen Teil meiner Uniformen zu verdecken. Im Haus wachten sofort acht schlafende Segmente auf, und sobald ich meine Fassung wiedererlangt hatte, eilten sie zu Leutnantin Awn, die sich hingelegt hatte und einzuschlafen versuchte. Als zwei dieser Segmente, Siebzehn und Vier, sahen, dass es Leutnantin Awn anscheinend gutging und sie von mehreren anderen Segmenten umgeben war, wandten sie sich der Hauskonsole zu, um den Kommunikationsstatus zu überprüfen. Die Konsole funktionierte nicht.
»Die Kommunikation ist tot«, rief mein Segment Siebzehn, deren Stimme durch die glatte, silbrige Rüstung verzerrt wurde.
»Unmöglich«, sagte Vier, und Siebzehn antwortete nicht, weil angesichts der Tatsachen keine Antwort nötig war.
Einige meiner Segmente in der Oberstadt wandten sich tatsächlich dem Vortempelteich zu, bevor ihnen klar wurde, dass ich lieber bleiben sollte, wo ich war. Jedes einzelne Segment auf dem Platz und im Tempel machte sich auf dem Weg zum Haus. Eine von mir rannte los, um nach Leutnantin Awn zu sehen, und zwei sagten gleichzeitig: »Die Oberstadt!« Und zwei weitere: »Die Sturmsirene!« Und zwei verwirrte Sekunden lang versuchten die Teile von mir zu entscheiden, was als Nächstes zu tun war. Segment Neun rannte in die Tempelresidenz und weckte die Priesterin, die neben der Sturmsirene schlief und sie daraufhin auslöste.
Kurz bevor die Sirene ertönte, kam Jen Shinnan aus ihrem Haus in der Oberstadt gerannt und schrie: »Mord! Mord!« In den benachbarten Häusern gingen die Lichter an, aber alle weiteren Geräusche wurden vom Kreischen der Sirene überschallt. Mein nächstes Segment war vier Straßen entfernt.
Überall in der Unterstadt rasselten die Sturmrollläden herunter. Die Priesterinnen im Tempel stellten ihre Gebete ein, und die Oberpriesterin blickte mich an. Aber ich hatte keine Informationen für sie und gestikulierte meine Hilflosigkeit. »Meine Kommunikation ist unterbrochen, Göttliche«, sagte dieses Segment. Die Oberpriesterin blinzelte verständnislos. Sprechen war sinnlos, solange die Sirene heulte.
Die Herrin der Radch hatte in dem Moment, als ich fragmentiert wurde, nicht reagiert, obwohl sie mit ihren übrigen Körpern auf ähnliche Weise verbunden war, wie ich es normalerweise war. Ihr offenkundiger Mangel an Überraschung war seltsam genug, dass mein Segment, das ihr am nächsten war, es bemerkte. Aber vielleicht war es auch nur Selbstbeherrschung, denn die Sirene entlockte ihr nicht mehr als einen Blick nach oben und eine hochgezogene Augenbraue. Dann erhob sie sich und trat hinaus auf den Platz.
Es war das Drittschlimmste, was mir jemals widerfahren war. Ich hatte jedes Gefühl für die Gerechtigkeit der Torren über mir verloren, jedes Gefühl für mich selbst. Ich war in zwanzig Fragmente zersplittert, die kaum noch miteinander kommunizieren konnten.
Kurz vor dem Alarm hatte Leutnantin Awn ein Segment zum Tempel geschickt, mit der Anweisung, die Sirene ertönen zu lassen. Jetzt kam dieses Segment auf den Platz gerannt, wo es zögernd stehen blieb, blickte zu meinen anderen Körpern, die sichtbar, aber nicht da waren, soweit es meine Selbstwahrnehmung betraf.
Die Sirene verstummte. In der Unterstadt herrschte Stille, die einzigen Geräusche waren meine Schritte und die von den Rüstungen gefilterten Stimmen, die versuchten, mit mir selbst zu sprechen, sich zu organisieren, damit ich wenigstens in kleinem Maßstab wieder funktionierte.
Die Herrin der Radch zog eine ergraute Augenbraue hoch. »Wo ist Leutnantin Awn?«
Das war natürlich die Frage, die all meine Segmente, die es noch nicht erfahren hatten, am meisten beschäftigte, aber jetzt wusste die eine Version von mir, die mit dem Befehl von Leutnantin Awn gekommen war, was zu tun war. »Leutnantin Awn ist auf dem Weg, Herrin«, sagte sie, und zehn Sekunden später trafen Leutnantin Awn und die meisten übrigen von mir ein, die sich im Haus aufgehalten hatten, und stürmten auf den Platz.
»Ich dachte, Sie hätten diese Region unter Kontrolle.« Anaander Mianaai sah Leutnantin Awn nicht an, während sie sprach, aber es war klar, an wen ihre Worte gerichtet waren.
»Das dachte ich ebenfalls.« Und dann erinnerte sich Leutnantin Awn, wo sie war und zu wem sie sprach. »Herrin. Ich bitte um Verzeihung.« Alle von mir mussten sich beherrschen, um sich nicht ganz umzudrehen und Leutnantin Awn anzusehen, um sich zu überzeugen, dass sie wirklich hier war, weil ich sie ansonsten nicht spüren konnte. Ein wenig Geflüster klärte, welche von meinen Segmenten in ihrer Nähe bleiben würden, und die übrigen würden sich darauf verlassen müssen.
Mein Segment Zehn kam in vollem Lauf um den Vortempelteich gerannt. »Probleme in der Oberstadt!«, rief sie und hielt vor Leutnantin Awn an, wo ich mir selbst Platz machte. »Vor Jen Shinnans Haus hat sich eine Menge gebildet. Die Leute sind wütend, sie reden von Mord, und sie verlangen Gerechtigkeit.«