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»Mord. Ach du Scheiße!«

Alle Segmente in Leutnantin Awns Nähe ermahnten sie im Chor: »Ihre Ausdrucksweise, Leutnantin!« Anaander Mianaai bedachte mich mit einem ungläubigen Blick, sagte aber nichts.

»Ach du Scheiße!«, wiederholte Leutnantin Awn.

»Wollen Sie«, fragte Anaander Mianaai ruhig und bedächtig, »noch irgendetwas anderes tun als fluchen?«

Leutnantin Awn erstarrte eine halbe Sekunde lang, dann blickte sie sich um, über das Wasser, zur Unterstadt und zum Tempel. »Wer ist hier? Zählen!« Und als wir damit fertig waren, fuhr sie fort: »Eins bis Sieben bleiben hier. Die übrigen kommen mit mir.« Ich folgte ihr in den Tempel und ließ Anaander Mianaai auf dem Platz stehen.

Die Priesterinnen standen in der Nähe des Podiums und beobachten, wie wir näher kamen. »Göttliche«, sagte Leutnantin Awn.

»Leutnantin«, sagte die Oberpriesterin.

»Ein gewaltbereiter Mob ist von der Unterstadt hierher unterwegs. Ich schätze, dass uns noch fünf Minuten bleiben. Die Leute können nicht viel Schaden anrichten, solange die Sturmrollläden heruntergelassen sind. Ich würde sie gern hier hereinbringen, sie davon abhalten, etwas Unüberlegtes zu tun.«

»Sie hier hereinbringen«, wiederholte die Oberpriesterin zweifelnd.

»Sonst ist alles verdunkelt und verriegelt. Die großen Türen stehen offen, also liegt es nahe, dort hereinzukommen, und wenn die meisten drinnen sind, schließen wir die Türen, und Eins Esk umzingelt sie. Wir könnten auch einfach die Tempeltüren schließen, damit sie ihr Glück mit den Rollläden an den Häusern versuchen, aber ich möchte eigentlich nicht herausfinden, wie schwer es ist, sie aufzubrechen. Wenn«, fügte sie hinzu, als sie sah, wie Anaander Mianaai mit langsamen Schritten in den Tempel kam, als wäre überhaupt nichts Ungewöhnliches geschehen, »meine Herrin erlaubt.«

Die Herrin der Radch gab mit einer stummen Geste ihre Zustimmung.

Der Oberpriesterin hatte der Vorschlag offensichtlich nicht gefallen, aber auch sie stimmte zu. Inzwischen sahen meine Segmente auf dem Platz Handlampen, die sporadisch in den nächstgelegenen Straßen der Unterstadt aufleuchteten.

Nach wenigen Augenblicken hatte Leutnantin Awn mich hinter den großen Tempeltüren postiert, wo ich mich bereithielt, sie auf ihr Zeichen zu schließen, und ein paar von mir auf die Straßen rund um den Platz abkommandiert, um mitzuhelfen, die Tanmind zum Tempel zu treiben. Der Rest von mir stand in den Schatten an den Innenwänden des Tempels, und die Priesterinnen wandten sich wieder ihren Gebeten zu, mit dem Rücken zum weiten und einladenden Eingang.

Mehr als einhundert Tanmind kamen von der Unterstadt. Die meisten taten genau das, was wir wünschten, und strömten als wirbelnde, rufende Menge in den Tempel, bis auf dreiundzwanzig, von denen ein Dutzend in eine dunkle, leere Chaussee abbog. Die übrigen elf, die sich bereits zuvor hinter der größeren Gruppe gehalten hatten, sahen, wie ein Segment von mir still in der Nähe dastand, und überlegten es sich noch einmal. Sie hielten an, berieten sich murmelnd, beobachteten die Menge der Tanmind, die in den Tempel eilte, und die anderen, die laut rufend die Straße hinunterrannten. Sie beobachteten, wie ich die Tempeltüren schloss. Die dort postierten Segmente waren nicht uniformiert, sondern nur mit dem Silber meiner selbsterzeugten Rüstung bekleidet, und vielleicht erinnerte sie das alles an die Annexion. Mehrere von ihnen fluchten, dann kehrten sie um und rannten zurück zur Unterstadt.

Dreiundachtzig Tanmind waren in den Tempel gestürmt, wo ihre wütenden Stimmen verstärkt widerhallten. Beim Geräusch der zuschlagenden Türen drehten sie sich um und versuchen, den Weg zurückzustürmen, den sie gekommen waren, aber ich hatte sie umzingelt, meine Waffen gezogen und auf jene gerichtet, die den jeweiligen Segmenten am nächsten waren.

»Bürgerinnen!«, rief Leutnantin Awn, aber sie kannte den Trick nicht, wie man sich einer Menge verständlich machte.

»Bürgerinnen!«, riefen die verschiedenen Segmente von mir. Meine Stimmen hallten wider und verklangen. Im Getümmel der Tanmind sah ich auch Jen Shinnan und Jen Taa sowie ein paar andere, von denen ich wusste, dass es sich um deren Freundinnen oder Verwandte handelte. Sie versuchten nun, die Leute in ihrer Nähe zu beruhigen, machten ihnen klar, dass die Herrin der Radch persönlich anwesend war und dass sie direkt zu ihr sprechen konnten.

»Bürgerinnen!«, rief Leutnantin Awn erneut. »Haben Sie den Verstand verloren? Was tun Sie hier?«

»Mord!«, rief Jen Shinnan, die in vorderster Reihe der Menge stand. Sie rief über meinen Kopf hinweg zu Leutnantin Awn, die hinter mir stand, neben der Herrin der Radch und der Göttlichen. Die Juniorpriesterinnen hatten sich zusammengedrängt, anscheinend vor Schreck erstarrt. Die aufgebrachten Stimmen der Tanmind, die Jen Shinnan unterstützten, hallten im Tempel wider. »Von Ihnen können wir keine Gerechtigkeit erwarten, also werden wir die Sache selbst in die Hand nehmen!«, rief Jen Shinnan. Das Murren der Menge rollte an den Steinwänden des Tempels entlang.

»Erklären Sie sich, Bürgerin«, sagte Anaander Mianaai mit tönender Stimme, um sich gegen den Lärm durchzusetzen.

Fünf Sekunden lang brachten sich die Tanmind zischend gegenseitig zum Schweigen, dann sagte Jen Shinnan: »Herrin.« Ihr respektvoller Tonfall klang beinahe aufrichtig. »Während der letzten Woche hat meine junge Nichte in meinem Haus gewohnt. Sie wurde von Orsai schikaniert und bedroht, als sie in die Unterstadt ging, was ich Leutnantin Awn meldete, doch es wurde nichts unternommen. An diesem Abend fand ich ihr Zimmer leer vor, das Fenster zerbrochen, überall Blut! Was soll ich daraus schlussfolgern? Die Orsai haben schon immer etwas gegen uns gehabt! Jetzt wollen sie uns alle töten. Wen wundert es, wenn wir uns verteidigen wollen?«

Anaander Mianaai wandte sich an Leutnantin Awn. »Wurde dieser Vorfall gemeldet?«

»Ja, Herrin«, sagte Leutnantin Awn. »Ich habe Ermittlungen angestellt und erfahren, dass die fragliche junge Person niemals das Blickfeld von Eins Esk der Gerechtigkeit der Torren verlassen hat, die berichtete, dass sie viel Zeit ganz allein in der Unterstadt verbracht hat. Die einzigen Worte, die zwischen ihr und anderen Personen ausgetauscht wurden, galten gewöhnlichen geschäftlichen Transaktionen. Sie wurde zu keiner Zeit schikaniert oder bedroht.«

»Sehen Sie!«, rief Jen Shinnan. »Sehen Sie, warum wir gezwungen sind, die Gerechtigkeit selbst in die Hand zu nehmen!«

»Und was veranlasst Sie zu der Annahme, dass Ihnen allen Lebensgefahr droht?«, fragte Anaander Mianaai.

»Herrin«, sagte Jen Shinnan. »Leutnantin Awn möchte vor Ihnen den Eindruck erwecken, dass alle in der Unterstadt loyal und gesetzestreu sind, aber wir wissen aus Erfahrung, dass die Orsai alles andere als der Inbegriff der Tugend sind. Die Fischer fahren nachts aufs Wasser hinaus, um nicht gesehen zu werden. Quellen …« Sie zögerte einen kurzen Moment, aber ich konnte nicht sagen, ob es an der Waffe lag, die genau auf sie gerichtet war, oder an Anaander Mianaais Leidenschaftslosigkeit oder an etwas ganz anderem. Aber mir schien, dass irgendetwas sie amüsiert hatte. Dann hatte sie die Fassung wiedererlangt. »Quellen, die ich lieber nicht namentlich nennen möchte, haben beobachtet, wie mit Booten aus der Unterstadt Waffen im See deponiert wurden. Wozu sollten sie dienen, außer um endlich Rache an uns zu nehmen, weil sie glauben, wir hätten sie schlecht behandelt? Und wie konnten diese Waffen ohne Absprache mit Leutnantin Awn hierhergelangen?«

Anaander Mianaai wandte Leutnantin Awn das dunkle Gesicht zu und zog eine ergraute Augenbraue hoch. »Haben Sie darauf eine Antwort, Leutnantin Awn?«

Etwas an dieser Frage oder an der Art, wie sie gestellt wurde, versetzte alle Segmente, die sie hörten, in Unruhe. Und Jen Shinnan lächelte sogar. Sie hatte erwartet, dass die Herrin der Radch sich gegen Leutnantin Awn wenden würde, und war nun sehr zufrieden.