»Ich habe in der Tat eine Antwort, Herrin«, sagte Leutnantin Awn. »Vor einigen Nächten meldete mir eine einheimische Fischerin, sie hätte ein Waffendepot im See gefunden. Ich barg das Depot und brachte es in mein Haus, und nach einiger Suche fand ich zwei weitere Depots, die ich ebenfalls sicherstellte. Ich hatte die Absicht, am heutigen Abend weiterzusuchen, aber wie Sie sehen, haben die jüngsten Ereignisse mich daran gehindert. Mein Bericht ist geschrieben, aber noch nicht abgeschickt, weil auch ich mich gefragt habe, wie diese Waffen ohne mein Wissen hierhergelangt sein könnten.«
Vielleicht lag es nur an Jen Shinnans Lächeln und den eigentümlich anklagenden Fragen von Anaander Mianaai — und an der früheren Kränkung auf dem Tempelplatz —, aber in der aufgeladenen Luft des Tempels klangen Leutnantin Awns Worte wie eine Anklage.
»Außerdem habe ich mich gefragt«, fuhr Leutnantin Awn fort, als es nach den Echos wieder still geworden war, »warum die fragliche junge Person fälschlicherweise Bewohnerinnen der Unterstadt vorgeworfen hat, sie schikaniert zu haben, obwohl sie es ganz gewiss nicht getan haben. Ich bin mir ziemlich sicher, dass niemand aus der Unterstadt ihr etwas angetan hat.«
»Aber jemand hat es getan!«, rief eine Stimme aus der Menge, und zustimmendes Gemurmel setzte ein, wurde lauter und hallte durch den großen Raum.
»Wann haben Sie Ihre Cousine zuletzt gesehen?«, fragte Leutnantin Awn.
»Vor drei Stunden«, antwortete Jen Shinnan. »Sie sagte uns gute Nacht und ging auf ihr Zimmer.«
Leutnantin Awn sprach das Segment von mir an, das ihr am nächsten war. »Eins Esk, ist während der letzten drei Stunden irgendjemand von der Unter- in die Oberstadt gegangen?«
Das Segment, das ihr antwortete — Dreizehn —, wusste, dass ich sehr vorsichtig sein musste, weil zwangsläufig jede die Antwort hören konnte. »Nein. Niemand ist in die eine oder andere Richtung gegangen. Allerdings kann ich über die vergangenen fünfzehn Minuten keine sicheren Angaben mehr machen.«
»Es könnten früher welche gekommen sein«, gab Jen Shinnan zu bedenken.
»In diesem Fall«, erwiderte Leutnantin Awn, »befinden sie sich immer noch in der Oberstadt. Also sollten Sie dort nach ihnen suchen.«
»Die Waffen …«, setzte Jen Shinnan an.
»Stellen keine Gefahr für Sie dar. Sie sind unter dem Obergeschoss meines Hauses eingeschlossen, und Eins Esk hat inzwischen die meisten funktionsunfähig gemacht.«
Jen Shinnan warf einen seltsamen flehenden Blick zu Anaander Mianaai, die den Wortwechsel schweigend und leidenschaftslos verfolgt hatte. »Aber …«
»Leutnantin Awn«, sagte die Herrin der Radch. »Auf ein Wort.« Auf ihren Wink ging Leutnantin Awn mit ihr zu einer fünfzehn Meter entfernten Stelle. Eins meiner Segmente folgte ihnen, was Mianaai ignorierte. »Leutnantin«, sagte sie leise. »Erzählen Sie mir, was Ihrer Meinung nach hier vorgeht.«
Leutnantin Awn schluckte, nahm einen tiefen Atemzug. »Herrin. Ich bin mir sicher, dass niemand aus der Unterstadt der fraglichen jungen Person etwas angetan hat. Ebenso bin ich davon überzeugt, dass die Waffendepots nicht von Bewohnerinnen der Unterstadt angelegt wurden. Und es handelt sich ausschließlich um Waffen, die während der Annexion konfisziert wurden. Die Sache kann ihren Ursprung nur auf einer sehr hohen Ebene haben. Das war der Grund, warum ich den Bericht nicht abgeschickt habe. Ich hatte gehofft, nach Ihrer Ankunft direkt mit Ihnen darüber sprechen zu können, aber bislang hatte ich keine Gelegenheit dazu erhalten.«
»Sie befürchteten, wenn Sie es auf dem regulären Kanal melden, könnten die Verantwortlichen bemerken, dass man ihnen auf die Spur gekommen ist, um daraufhin Beweise zu vertuschen.«
»Ja, Herrin. Als ich hörte, dass Sie kommen, Herrin, fasste ich den Entschluss, sofort mit Ihnen darüber zu reden.«
»Gerechtigkeit der Torren.« Die Herrin der Radch sprach mein Segment an, ohne mich anzusehen. »Ist das wahr?«
»Absolut, Herrin«, antwortete ich. Die Priesterinnen drängten sich immer noch zusammen, und die Oberpriesterin stand ein Stück von ihnen entfernt. Sie beobachtete die Unterhaltung zwischen Leutnantin Awn und der Herrin der Radch mit einem Gesichtsausdruck, den ich nicht deuten konnte.
»Also«, sagte Anaander Mianaai. »Wie schätzen Sie diese Situation ein?«
Leutnantin Awn blinzelte verblüfft. »Es … es sieht für mich sehr danach aus, dass Jen Shinnan etwas mit den Waffen zu tun hat. Wie hätte sie sonst von ihrer Existenz wissen können?«
»Und diese ermordete junge Person?«
»Falls sie wirklich ermordet wurde, hat es niemand aus der Unterstadt getan. Sie könnten sie selbst getötet haben, um sich einen Vorwand zu verschaffen …« Leutnantin Awn verstummte entsetzt.
»Einen Vorwand, um in die Unterstadt zu kommen und unschuldige Bürgerinnen in ihren Betten zu ermorden. Um dann mit der Existenz der Waffendepots ihre Behauptung zu unterstützen, sie hätten es nur in Selbstverteidigung getan, weil Sie sich geweigert haben, Ihrer Pflicht nachzukommen und sie zu beschützen.« Sie warf einen Blick zu den Tanmind, die von meinen immer noch bewaffneten und mit silbernen Rüstungen ausgestatteten Segmenten umringt wurden. »Gut. Mit den Einzelheiten können wir uns später beschäftigen. Jetzt müssen wir uns um diese Leute kümmern.«
»Herrin«, bestätigte Leutnantin Awn mit einer leichten Verbeugung.
»Erschießen Sie sie.«
Für Nicht-Bürgerinnen, die Radchaai nur aus melodramatischen Unterhaltungsprogrammen kennen, die nichts über die Radch wissen außer Hilfseinheiten und Annexionen und was sie für Gehirnwäsche halten, mag ein solcher Befehl erschreckend klingen, aber nicht überraschend. Doch die Vorstellung, Bürgerinnen zu erschießen, war in der Tat äußerst schockierend und erschütternd. Schließlich sollte der Sinn der Zivilisation doch das Wohlergehen der Bürgerinnen sein. Und diese Leute waren nun Bürgerinnen.
Leutnantin Awn erstarrte für zwei Sekunden. »Herrin?«
Anaander Mianaais Stimme, die leidenschaftslos, vielleicht ein wenig streng gewesen war, wurde kalt und ernst. »Verweigern Sie einen Befehl, Leutnantin?«
»Nein, Herrin, nur … es sind Bürgerinnen. Und wir befinden uns in einem Tempel. Und wir haben sie unter Kontrolle. Ich habe Eins Esk der Gerechtigkeit der Torren zur nächsten Division geschickt, um Verstärkung anzufordern. Sieben Issa der Gerechtigkeit der Ennte müsste in ein oder vielleicht zwei Stunden hier sein. Dann können wir die Tanmind verhaften und sie sehr leicht zur Umerziehung abkommandieren, da Sie selbst anwesend sind.«
»Verweigern Sie«, fragte Anaander Mianaai langsam und deutlich, »einen Befehl?«
Jen Shinnans Belustigung, ihre Bereitschaft, ihr Bestreben, mit der Herrin der Radch zu sprechen, passte für mein zuhörendes Segment plötzlich zusammen. Eine Person, die sehr weit oben stand, hatte diese Waffen zur Verfügung gestellt, hatte die Möglichkeit, die Kommunikation zu unterbrechen. Niemand stand höher als Anaander Mianaai. Aber es ergab keinen Sinn. Jen Shinnans Motive waren offensichtlich, aber wie konnte die Herrin der Radch davon profitieren?
Vermutlich hatte Leutnantin Awn ähnliche Gedanken. Ich konnte ihre Verzweiflung an der Anspannung ihres Unterkiefers erkennen, an der steifen Haltung der Schultern. Trotzdem kam es mir unwirklich vor, weil ich lediglich die äußeren Anzeichen sehen konnte. »Ich werde keinen Befehl verweigern, Herrin«, sagte sie nach fünf Sekunden. »Aber darf ich dagegen protestieren?«
»Ich glaube, das haben Sie bereits getan«, sagte Anaander Mianaai kalt. »Und jetzt erschießen Sie sie.«
Leutnantin Awn drehte sich um. Mir schien, sie zitterte ein klein wenig, als sie auf die umzingelten Tanmind zuging.
»Gerechtigkeit der Torren«, sagte Mianaai, und das Segment von mir, das Leutnantin Awn folgen wollte, hielt inne. »Wann habe ich dich das letzte Mal besucht?«