Ich erinnerte mich sehr deutlich an das letzte Mal, als die Herrin der Radch an Bord der Gerechtigkeit der Torren gegangen war. Es war ein ungewöhnlicher Besuch gewesen — unangekündigt, vier ältere Körper ohne Gefolge. Sie war die meiste Zeit in ihrem Quartier geblieben, um mit mir zu reden — mir, der Gerechtigkeit der Torren, nicht mir, Eins Esk —, aber sie hatte Eins Esk gebeten, für sie zu singen. Ich hatte mit einem valskaayanischen Stück gehorcht. Es lag vierundneunzig Jahre, zwei Monate, zwei Wochen und sechs Tage zurück, kurz nach der Annexion von Valskaay. Ich öffnete den Mund, um es zu sagen, aber stattdessen hörte ich mich selbst antworten: »Vor zweihundertdrei Jahren, vier Monaten, einer Woche und einem Tag, Herrin.«
»Hmm«, machte Anaander Mianaai, aber mehr sagte sie nicht dazu.
Leutnantin Awn kam auf mich zu, wo ich die Tanmind umringte. Dort blieb sie stehen, hinter einem Segment, dreieinhalb Sekunden lang, und sagte nichts.
Ihre Verzweiflung musste für mehr als nur mich offensichtlich sein. Jen Shinnan, die sie dort schweigend und unglücklich stehen sah, lächelte. Fast triumphierend. »Nun?«
»Eins Esk«, sagte Leutnantin Awn, und ihr war deutlich anzuhören, dass sie sich vor dem Ende des begonnenen Satzes fürchtete. Jen Shinnans Lächeln wurde noch ein wenig breiter. Zweifellos erwartete sie, dass Leutnantin Awn die Tanmind nach Hause schickte. Sie erwartete, dass Leutnantin Awn schließlich abgesetzt und der Einfluss der Unterstadt geschwächt wurde. »Ich will das nicht tun«, sagte Leutnantin Awn leise zu ihr, »aber ich habe einen direkten Befehl erhalten.« Sie hob die Stimme. »Eins Esk. Erschießen Sie diese Leute.«
Jen Shinnans Lächeln verschwand, wich dem Ausdruck des Entsetzens und vermutlich der Verbitterung, und sie blickte offen und direkt zu Anaander Mianaai. Die leidenschaftslos dastand. Die anderen Tanmind schrien laut protestierend und vor Angst.
Alle meine Segmente zögerten. Der Befehl ergab keinen Sinn. Was auch immer sie getan hatten, sie waren Bürgerinnen, und ich hatte sie unter Kontrolle. Doch Leutnantin Awn sagte laut und schroff: »Feuer frei!« Und ich feuerte. Innerhalb von drei Sekunden waren alle Tanmind tot.
Keine von denen, die sich in diesem Moment im Tempel aufhielten, war jung genug, um von diesem Ereignis überrascht zu werden, auch wenn die etlichen Jahre, seit ich jemanden exekutiert hatte, der Erinnerung vielleicht eine gewisse Distanz verliehen, vielleicht sogar eine gewisse Zuversicht zur Folge hatten, dass der Bürgerinnenstatus das Ende solcher Zwischenfälle bedeutete. Die Juniorpriesterinnen standen dort, wo sie von Anfang an gestanden hatten, ohne sich zu rühren, ohne etwas zu sagen. Die Oberpriesterin weinte offen und lautlos.
»Ich glaube«, sagte Anaander Mianaai in die gewaltige Stille, die uns umgab, nachdem das Echo der Schüsse verklungen war, »hier wird es keine Schwierigkeiten mit den Tanmind mehr geben.«
Leutnantin Awns Mund und Kehle zuckten leicht, als wollte sie sprechen, was sie jedoch nicht tat. Stattdessen ging sie los, um die Leichen herum, tippte im Vorbeigehen vier meiner Segmente auf die Schulter und bedeutete ihnen, ihr zu folgen. Ich erkannte, dass sie einfach nicht imstande war, etwas zu sagen. Oder sie fürchtete sich vor dem, was aus ihrem Mund kommen würde, wenn sie es versuchte. Es war frustrierend, nur visuelle Daten von ihr zu bekommen.
»Wohin gehen Sie, Leutnantin?«, fragte die Herrin der Radch.
Leutnantin Awn hatte Mianaai den Rücken zugekehrt und öffnete den Mund, um ihn wieder zu schließen. Dann schloss sie die Augen und holte tief Luft. »Mit Erlaubnis meiner Herrin möchte ich herausfinden, was die Kommunikation stört.« Anaander Mianaai antwortete nicht, und Leutnantin Awn wandte sich meinem nächsten Segment zu.
»Zu Jen Shinnans Haus«, sagte das Segment, da es klar war, dass Leutnantin Awn immer noch unter großem emotionalem Stress stand. »Ich werde dort auch nach der jungen Person suchen.«
Kurz vor Sonnenaufgang fand ich dort das Gerät. In dem Augenblick, als ich es deaktivierte, war ich wieder ich selbst — minus ein fehlendes Segment. Ich sah die stillen, schwach erhellten Straßen der Ober- und Unterstadt, den Tempel, der leer war, bis auf mich und dreiundachtzig stumme, starrende Leichen. Leutnantin Awns Kummer und Verzweiflung und Scham waren auf einmal deutlich sichtbar, worauf ich mit kollektiver Erleichterung und Unbehagen reagierte. Und ein kurzer Willensimpuls führte dazu, dass die Trackersignale aller Personen in Ors in meinem Sichtfeld zum Leben erwachten, einschließlich jener, die gestorben waren und immer noch im Tempel der Ikkt lagen. Außerdem mein fehlendes Segment in einer Straße der Oberstadt, mit gebrochenem Genick, und Jen Shinnans Nichte — im Schlamm am Grund des nördlichen Randes des Vortempelteichs.
9
Strigan kam aus der Krankenstation, mit blutiger Jacke, und das Mädchen und ihre Mutter, die sich leise in einer Sprache unterhalten hatten, die ich nicht verstand, verstummten und blickten erwartungsvoll zu ihr auf.
»Ich habe getan, was ich konnte«, sagte Strigan ohne Vorrede. »Er ist außer Gefahr. Sie müssen ihn nach Therrod bringen, um seine Gliedmaßen nachwachsen zu lassen, aber ich habe bereits ein paar vorbereitende Behandlungen vorgenommen, sodass sie sich recht schnell rekonstruieren lassen werden.«
»Zwei Wochen«, sagte die Nilter teilnahmslos. Als wäre es nicht das erste Mal, dass so etwas geschehen war.
»Das lässt sich nicht vermeiden«, antwortete Strigan auf etwas, dass ich nicht gehört oder verstanden hatte. »Vielleicht hat jemand ein paar Hände, die er erübrigen kann.«
»Ich werde ein paar Cousins anrufen.«
»Tun Sie das«, sagte Strigan. »Sie können ihn jetzt sehen, wenn sie möchten, aber er schläft.«
»Wann können wir ihn transportieren?«, fragte die Frau.
»Jetzt, wenn Sie möchten«, antwortete Strigan. »Je früher, desto besser, schätze ich.«
Die Frau machte eine zustimmende Geste, dann standen sie und das Mädchen auf und gingen ohne ein weiteres Wort in die Krankenstation.
Wenig später brachten wir die verletzte Person nach draußen zum Flieger der Mutter und verabschiedeten uns von ihnen. Dann trotteten wir zurück ins Haus und warfen unsere äußeren Mäntel ab. Seivarden war inzwischen zu ihrer Pritsche auf dem Boden zurückgekehrt und saß mit angezogenen Knien da, die Arme fest um die Beine gelegt, als müsste sie sie mit großer Kraftanstrengung festhalten.
Strigan sah mich mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an, den ich nicht zuordnen konnte. »Sie ist ein gutes Kind.«
»Ja.«
»Nach dieser Sache wird sie einen guten Namen bekommen. Und eine gute Geschichte, die sie dazu erzählen kann.«
Ich hatte die Lingua franca gelernt, von der ich gedacht hatte, dass sie hier sehr nützlich sein würde, und ich hatte mir ein paar allgemeine Informationen verschafft, die man benötigt, um sich auf einer unvertrauten Welt bewegen zu können, aber ich wusste fast nichts über die Leute, die in diesem Teil des Planeten Bovs hüteten. »Hat das etwas mit dem Erwachsenwerden zu tun?«
»Sozusagen. Ja.« Sie ging zu einem Schrank und nahm einen Becher und eine Tasse heraus. Ihre Bewegungen waren schnell und sicher, aber irgendwie erhielt ich den Eindruck von Erschöpfung. Vielleicht aufgrund der Haltung ihrer Schultern. »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie sich besonders für Kinder interessieren. Außer sie zu töten, meine ich.«
Ich widerstand dem Köder. »Sie ließ mich wissen, dass sie keineswegs ein Kind ist. Obwohl sie ein Tiktik-Set dabei hatte.«
Strigan setzte sich an ihren kleinen Tisch. »Sie haben zwei Stunden lang mit ihr gespielt.«
»Es gab sonst nicht viel zu tun.«
Strigan lachte kurz und verbittert. Dann deutete sie auf Seivarden, die uns zu ignorieren schien. Sie konnte uns ohnehin nicht verstehen, da wir kein Radchaai sprachen. »Er tut mir nicht leid. Aber ich bin nun mal Arzt.«