Seivarden wandte den Blick von mir ab, schaute nach links unten. Sie wollte es mir nicht sagen.
»Alles war falsch«, flüsterte sie nach neun Sekunden Schweigen.
»Böse Träume«, sagte Strigan. »Beklemmung. Manchmal ein Zittern.«
»Instabil«, sagte ich. In der Übersetzung hatte es nur wenig Schärfe, aber auf Radchaai besagte es viel mehr, insbesondere für eine Offizierin wie Seivarden. Schwach, furchtsam, den Anforderungen ihrer Position nicht gewachsen. Zerbrechlich. Falls Seivarden instabil war, hatte sie ihre Stellung letztlich nicht verdient, war im Grunde nie für das Militär geeignet gewesen, ganz zu schweigen von der Führung eines Schiffs. Aber natürlich hatte Seivarden sich auf ihre Eignung prüfen lassen, und das Ergebnis hatte bestätigt, was ihr Haus schon immer von ihr vermutet hatte: Sie war stabil und zum Kommandieren und Erobern geeignet. Sie neigte keineswegs zu Zweifeln oder irrationalen Ängsten.
»Sie wissen gar nicht, wovon Sie reden«, knurrte Seivarden verächtlich. Die Arme immer noch um ihre Knie geschlungen. »Niemand aus meinem Haus ist instabil.«
Natürlich (dachte ich, sagte es aber nicht) hatten die verschiedenen Cousinen, die ein Jahr oder so während der einen oder anderen Annexion gedient hatten, sich danach nicht zur Ruhe gesetzt, einen Eid der Askese abgelegt oder damit begonnen, Teeservices zu bemalen, weil sie instabil gewesen waren. Auch wenn andere Cousinen bei den Prüfungen nicht wie erwartet abgeschnitten hatten, sondern ihre Eltern mit Positionen in den unteren Rängen der Priesterschaft oder in den Künsten überraschten, war das kein Hinweis auf irgendeine dem Haus angeborene Instabilität gewesen, nein, niemals. Und natürlich machte Seivarden sich auch nicht die geringsten Sorgen, welche neue Aufgabe sie nach einer Wiederholung der Eignungsprüfung erhalten würde und was das möglicherweise über ihre Stabilität aussagte. Natürlich nicht.
»Instabil?«, fragte Strigan, die das Wort, aber nicht den Kontext verstand.
»Den Instabilen«, erklärte ich, »mangelt es an einer gewissen Charakterstärke.«
»Charakter!« Strigans Empörung war ihr deutlich anzusehen.
»Natürlich.« Ich änderte meinen Gesichtsausdruck nicht, sondern wahrte eine nichtssagende, freundliche Miene, wie ich es in den vergangenen Tagen die meiste Zeit getan hatte. »Geringere Bürgerinnen brechen angesichts gewaltiger Schwierigkeiten oder unter Stress zusammen und benötigen deswegen ärztliche Behandlung. Aber andere Bürgerinnen haben bessere Anlagen. Sie brechen niemals zusammen. Auch wenn sie sich vielleicht früh zur Ruhe setzen oder ein paar Jahre künstlerische oder spirituelle Interessen verfolgen. Ein längerer Rückzug zur Meditation ist recht populär. Daran erkennt man den Unterschied zwischen hochgestellten Familien und solchen, die weiter unten stehen.«
»Aber die Radchaai sind sehr gut mit Gehirnwäschen. Zumindest habe ich das gehört.«
»Umerziehung«, korrigierte ich. »Wäre sie geblieben, hätte sie Hilfe bekommen.«
»Aber sie konnte sich nicht einmal eingestehen, dass sie Hilfe benötigt.« Ich stimmte weder zu noch widersprach ich, obwohl ich glaubte, dass Strigan recht hatte. »Wie viel kann eine … Umerziehung bewirken?«
»Eine ganze Menge«, sagte ich. »Obwohl vieles von dem, was Sie vermutlich gehört haben, maßlos übertrieben ist. Sie können nicht in etwas verwandelt werden, das Sie gar nicht sind. Jedenfalls nicht auf nutzbringende Weise.«
»Erinnerungen können gelöscht werden.«
»Sie werden eher unterdrückt, glaube ich. Und vielleicht neue hinzugefügt. Man muss wissen, was man tut, weil man den Leuten sonst großen Schaden zufügen könnte.«
»Zweifellos.«
Seivarden starrte uns stirnrunzelnd an, beobachtete uns, ohne zu verstehen, was wir sagten.
Strigan lächelte matt. »Sie sind kein Produkt einer Umerziehung.«
»Nein«, bestätigte ich.
»Es war Chirurgie. Ein paar Verbindungen trennen, ein paar neue verknüpfen. Einige Implantate installieren.« Sie hielt einen Moment inne und wartete, dass ich etwas dazu sagte, was ich aber nicht tat. »Sie wirken recht überzeugend. Meistens. Ihr Gesichtsausdruck, Ihr Tonfall sind immer passend, wirken aber auch immer irgendwie … einstudiert. Sie tun so, als ob.«
»Sie glauben, das Rätsel gelöst zu haben«, riet ich.
»Gelöst ist nicht das richtige Wort. Aber Sie sind eine Leichensoldatin, dessen bin ich mir ganz sicher. Erinnern Sie sich an irgendetwas?«
»An viele Dinge«, sagte ich, immer noch mit nichtssagendem Ausdruck.
»Nein, ich meine, an die Zeit davor.«
Ich brauchte fast fünf Sekunden, bis ich verstanden hatte, was sie meinte. »Diese Person ist tot.«
Seivarden stand plötzlich ruckhaft auf und ging durch die innere Tür, und wie es klang, auch durch die äußere.
Strigan blickte ihr nach, gab ein kurzes, gehauchtes Hm von sich und wandte sich dann wieder an mich. »Die Selbstwahrnehmung hat eine neurologische Basis. Eine kleine Veränderung, und man glaubt, man würde gar nicht mehr existieren. Aber man ist immer noch da. Ich glaube, dass Sie immer noch da sind. Warum dieses bizarre Verlangen, Anaander Mianaai zu töten? Warum sonst sollten Sie so wütend auf ihn sein?« Sie neigte den Kopf in Richtung des Ausgangs, auf Seivarden, die sich mit nur einem Mantel draußen in der Kälte aufhielt.
»Er wird den Kriecher nehmen«, warnte ich. Das Mädchen und ihre Mutter hatten den Flieger genommen und den Kriecher vor Strigans Haus zurückgelassen.
»Nein, das wird er nicht. Ich habe ihn funktionsunfähig gemacht.« Ich gestikulierte anerkennend, und Strigan fuhr fort, wandte sich wieder dem vorigen Thema zu. »Und die Musik. Ich glaube nicht, dass Sie eine Sängerin waren, nicht mit einer solchen Stimme. Aber Sie müssen vorher Musikerin gewesen sein oder wenigstens Musik geliebt haben.«
Ich überlegte, ob ich das verbitterte Lachen ausstoßen sollte, das als Reaktion auf Strigans Vermutung angemessen wäre. »Nein«, sagte ich stattdessen. »Eigentlich nicht.«
»Aber Sie sind eine Leichensoldatin, in diesem Punkt habe ich recht.« Ich sagte nichts dazu. »Sie sind irgendwie entkommen oder … kommen Sie von seinem Schiff? Dem von Kapitän Seivarden?«
»Die Schwert von Nathtas wurde vernichtet.« Ich war dabei gewesen, in der Nähe. Relativ gesehen. Nahe genug, um es zu beobachten. »Und das war vor tausend Jahren.«
Strigan blickte zur Tür und wieder zu mir. Dann runzelte sie die Stirn. »Nein. Nein, ich glaube, Sie sind eine Ghaonish, und die wurden erst vor einigen Jahrhunderten annektiert, nicht wahr? Das hätte ich nicht vergessen sollen. Das ist der Grund, warum Sie sich als jemand von der Gerentate ausgeben können, nicht wahr? Nein, Sie sind irgendwie entkommen. Ich kann Sie zurückbringen. Ich bin mir sicher, dass ich es kann.«
»Sie meinen, Sie können mich töten. Sie können meine Selbstwahrnehmung zerstören und sie durch eine ersetzen, die Sie akzeptieren können.«
Strigan hörte das nicht gern, wie ich deutlich erkannte. Die äußere Tür wurde geöffnet, dann trat Seivarden zitternd durch die innere. »Ziehen Sie nächstes Mal Ihre beiden Mäntel an«, sagte ich zu ihr.
»Sie können mich mal.« Sie nahm sich eine Decke von ihrer Pritsche und legte sie sich um die Schultern. Dann stand sie immer noch zitternd da.
»Sehr unanständige Ausdrucksweise, Bürgerin«, sagte ich.
Einen Moment lang sah sie aus, als würde sie die Beherrschung verlieren. Dann schien sie sich daran zu erinnern, was geschehen könnte, wenn sie es tat. »Leck.« Sie ließ sich auf die nächste Bank fallen. »Mich.«
»Warum haben Sie ihn nicht liegen gelassen, wo Sie ihn gefunden haben?«, fragte Strigan.