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Ich hatte gedacht, dass die morgendlichen Tempeldienerinnen (verständlicherweise) beschließen würden, zu Hause zu bleiben, aber eine kleine Blumenträgerin, die vor den Erwachsenen in ihrem Haushalt aufgewacht war, traf mit einer Handvoll Kräutern mit rosafarbenen Blütenblättern ein und blieb vor dem Gebäude stehen, als sie zu ihrer Überraschung Anaander Mianaai vor unserer kleinen Amaat-Ikone knien sah.
Leutnantin Awn zog sich im Obergeschoss an. »Ich kann heute keinen Dienst tun«, sagte sie zu mir. Ihre Stimme war leidenschaftslos, völlig konträr zu ihren wahren Gefühlen. Der Morgen war bereits recht warm, und sie schwitzte.
»Sie haben keine der Leichen angerührt«, sagte ich mit Überzeugung, während ich ihren Jackenkragen zurechtrückte. Aber es war trotzdem falsch, das zu sagen.
Vier meiner Segmente, zwei am nördlichen Rand des Vortempelteichs und zwei hüfttief im lauwarmen Wasser und Schlamm watend, hoben die Leiche von Jen Taas Nichte auf die Kante und trugen sie dann zum Haus der Ärztin.
Im Erdgeschoss von Leutnantin Awns Haus sagte ich zur verängstigten, erstarrten Blumenträgerin: »Alles ist gut.« Von der Wasserträgerin war nichts zu sehen, und ich kam für eine solche Aufgabe nicht infrage.
»Sie werden wenigstens das Wasser bringen müssen, Leutnantin«, sagte ich oben zu Leutnantin Awn. »Die Blumenträgerin ist bereits da, aber nicht die Wasserträgerin.«
Eine Weile sagte Leutnantin Awn nichts, während ich ihr das Gesicht abwischte. »Richtig«, sagte sie und ging nach unten, um die Schale zu füllen und sie zur Blumenträgerin zu bringen, die immer noch verängstigt neben mir stand und die Handvoll rosafarbener Blumen umklammerte. Leutnantin Awn hielt ihr das Wasser hin, und sie legte die Blumen ab und wusch sich die Hände. Doch bevor sie die Blumen wieder aufheben konnte, hatte Anaander Mianaai sich zu ihr umgedreht, und das Kind starrte zurück und packte mit ihrer bloßen Hand meinen Handschuh. »Jetzt wirst du dir erneut die Hände waschen müssen, Bürgerin«, flüsterte ich, und mit noch etwas mehr Ermutigung tat sie es. Dann hob sie die Blumen auf und führte ihren Teil des morgendlichen Rituals nervös, aber korrekt durch. Sonst kam niemand, was mich nicht überraschte.
Die Ärztin, die zu sich selbst und nicht zu mir sprach, obwohl ich drei Meter von ihr entfernt stand, sagte: »Durchschnittene Kehle, ganz offensichtlich, aber sie wurde auch vergiftet.« Und dann voller Abscheu und Verachtung: »Ein Kind aus ihrem eigenen Haus. Diese Leute sind nicht zivilisiert.«
Unsere eine kleine Tempeldienerin ging, mit einem Geschenk von der Herrin der Radch in der Hand — eine Nadel in Form einer vierblättrigen Blume, jedes Blütenblatt mit dem emaillierten Bild einer der vier Emanationen. Anderswo würde jede Radchaai, die ein solches Geschenk empfing, es in Ehren halten und fast ständig tragen, ein Zeichen, dass sie mit der Herrin der Radch persönlich im Tempel gedient hatte. Doch dieses Kind würde die Nadel wahrscheinlich in eine Schachtel werfen und sie vergessen. Als sie außer Sichtweite war (der von Leutnantin Awn und der Herrin der Radch, aber nicht meiner), wandte Anaander Mianaai sich Leutnantin Awn zu und sagte: »Ist das nicht Unkraut?«
Leutnantin Awn stürzte diese Frage in tiefe Verlegenheit, in die sich kurz darauf Enttäuschung und eine heftige Wut mischte, die ich noch nie zuvor in ihr gesehen hatte. »Nicht für die Kinder, Herrin.« Sie schaffte es nicht, die Schärfe aus ihrer Stimme herauszuhalten.
Anaander Mianaais Ausdruck änderte sich nicht. »Diese Ikone und dieser Satz Omen. Sie sind Ihr persönlicher Besitz, denke ich. Wo sind diejenigen, die zum Tempel gehören?«
»Ich bitte meine Herrin um Verzeihung«, sagte Leutnantin Awn, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt wusste, dass sie es keineswegs tun wollte, was ihrem Tonfall deutlich anzuhören war. »Ich habe ihren Erwerb aus der Kasse finanziert, um die Geschenke für die Tempeldienerinnen zum Ende ihrer Dienstzeit zu ergänzen.« Außerdem hatte sie ihr eigenes Geld zum selben Zweck benutzt, aber das sagte sie nicht.
»Ich schicke Sie zur Gerechtigkeit der Torren zurück«, sagte die Herrin der Radch. »Ihre Nachfolgerin wird morgen hier sein.«
Scham. Ein neues Aufflackern der Wut. Und der Verzweiflung. »Ja, Herrin.«
Es gab nicht viel einzupacken. Ich konnte in weniger als einer Stunde bereit sein. Ich verbrachte den Rest des Tages damit, unseren Tempeldienerinnen, die alle zu Hause waren, die Geschenke auszuliefern. Die Schule war abgesagt worden, und es wagte sich kaum jemand auf die Straßen. »Leutnantin Awn weiß nicht«, sagte ich jeder von ihnen, »ob die neue Leutnantin andere Vereinbarungen treffen wird oder ob sie Ihnen die Geschenke zum Ende Ihrer Dienstzeit geben wird, ohne dass Sie ein ganzes Jahr lang gedient haben. Sie sollten trotzdem zum Haus kommen, an ihrem ersten Morgen.« Die Erwachsenen in jedem Haus musterten mich schweigend, ohne mich zum Eintreten aufzufordern, und jedes Mal legte ich das Geschenk ab — nicht das übliche Paar Handschuhe, die sich hier bislang kaum durchgesetzt hatten, sondern ein farbenfrohes, gemustertes Kleid und eine kleine Schachtel mit Tamarindensamen. Auch frisches Obst war üblich, aber die Zeit hatte nicht gereicht, welches zu besorgen. Ich ließ jeden kleinen Geschenkehaufen auf der Straße liegen, vor dem Hauseingang, und niemand kam, um ihn zu holen oder mit mir zu sprechen.
Die Göttliche verbrachte ein oder zwei Stunden hinter dem Wandschirm in der Tempelresidenz, bis sie schließlich hervorkam und völlig unausgeruht wirkte. Sie ging in den Tempel, wo sie sich mit den Juniorpriesterinnen beriet. Die Leichen waren fortgeschafft worden. Ich hatte angeboten, den Boden vom Blut zu säubern, ohne zu wissen, ob eine solche Arbeit zulässig war, aber die Priesterinnen hatten meine Unterstützung abgelehnt. »Einige von uns«, sagte die Göttliche zu mir, immer noch auf den Teil des Bodens starrend, wo die Toten gelegen hatten, »hatten vergessen, was Sie sind. Jetzt wurden sie wieder daran erinnert.«
»Ich glaube nicht, dass Sie es vergessen hatten, Göttliche«, sagte ich.
»Nein.« Sie schwieg zwei Sekunden lang. »Wird die Leutnantin noch einmal zu mir kommen, bevor sie geht?«
»Wahrscheinlich nicht, Göttliche«, sagte ich. In diesem Moment tat ich, was ich konnte, um Leutnantin Awn zu überreden, sich etwas Schlaf zu gönnen, den sie dringend brauchte, aber nur unter Schwierigkeiten finden würde.
»Vermutlich wäre es besser, wenn sie es nicht tut«, sagte die Oberpriesterin bitter. Dann sah sie mich an. »Das ist unvernünftig von mir. Ich weiß es. Was hätte sie sonst tun können? Es ist einfach für mich zu sagen — und ich sage es —, dass sie eine andere Entscheidung hätte treffen können.«
»Sie hätte es tun können, Göttliche«, räumte ich ein.
»Was war es noch gleich, was Sie Radchaai immer sagen?« Ich war keine Radchaai, aber ich korrigierte sie nicht. »Gerechtigkeit, Anstand und Nützlichkeit, nicht wahr? Jede Tat soll gerecht, anständig und nützlich sein.«
»Ja, Göttliche.«
»War das gerecht?« Ihre Stimme zitterte für einen kurzen Moment, und ich konnte hören, dass sie den Tränen nahe war. »War es anständig?«
»Ich weiß es nicht, Göttliche.«
»Und vor allem, wer hatte einen Nutzen davon?«
»Niemand, Göttliche, soweit ich erkennen kann.«
»Niemand? Wirklich? Kommen Sie, Eins Esk, halten Sie mich nicht zur Närrin.« Dieser zutiefst enttäuschte Blick, den Jen Shinnan Anaander Mianaai zugeworfen hatte, war für jede Anwesende völlig offensichtlich gewesen.
Trotzdem verstand ich nicht, welchen Nutzen sich die Herrin der Radch von diesen Tötungen versprochen hatte. »Diese Leute hätten Sie getötet, Göttliche«, sagte ich. »Sie und alle anderen, die sich nicht verteidigen konnten. Leutnantin Awn hat vergangene Nacht getan, was sie konnte, um ein Blutvergießen zu vermeiden. Es war nicht ihre Schuld, dass es ihr misslungen ist.«