»Oh doch.« Sie kehrte mir immer noch den Rücken zu. »Die Gottheit möge es ihr vergeben. Die Gottheit möge verhindern, dass ich jemals vor eine solche Wahl gestellt werde.« Sie machte eine betende Geste. »Und Sie? Was hätten Sie getan, wenn sich die Leutnantin geweigert und die Herrin der Radch Ihnen befohlen hätte, Ihre Vorgesetzte zu erschießen? Hätten Sie es tun können? Ich dachte, diese Rüstung, die Sie alle tragen, wäre undurchdringlich.«
»Die Herrin der Radch kann unsere Rüstungen deaktivieren.« Aber der Kode, den Anaander Mianaai hätte senden müssen, um Leutnantin Awns Rüstung auszuschalten — oder meine oder die irgendeiner anderen Radchaai-Soldatin —, hätte über die Kommunikation übermittelt werden müssen, die zu diesem Zeitpunkt blockiert gewesen war. Trotzdem. »Es führt zu nichts, über solche Dinge zu spekulieren, Göttliche«, sagte ich. »Es ist nicht geschehen.«
Die Oberpriesterin drehte sich um und sah mich konzentriert an. »Sie haben die Frage nicht beantwortet.«
Es war auch keine leichte Frage für mich. Ich war zerstückelt gewesen, und in jenem Moment hatte nur ein Segment von mir überhaupt gewusst, was auf dem Spiel stand — dass Leutnantin Awns Leben in der Schwebe hing, dass dieser Augenblick darüber entschied. Ich war mir nicht ganz sicher, ob dieses Segment ihre Waffe nicht stattdessen auf Anaander Mianaai gerichtet hätte.
Wahrscheinlich nicht. »Göttliche, ich bin keine Person.« Wenn ich die Herrin der Radch erschossen hätte, hätte sich nichts geändert, dessen war ich mir sicher, nur dass Leutnantin Awn dann trotzdem tot gewesen wäre und ich zerstört. Zwei Esk hätte meinen Platz übernommen, oder eine neue Eins Esk wäre aus Segmenten aus den Frachträumen der Gerechtigkeit der Torren konstruiert worden. Die KI des Schiffs wäre vielleicht in einige Schwierigkeiten geraten, auch wenn meine Handlungsweise vermutlich darauf geschoben worden wäre, dass ich von allem abgeschnitten war. »Leute glauben oft, sie selbst hätten die ehrenhafteste Wahl getroffen, aber wenn sie sich tatsächlich in einer solchen Situation wiederfinden, stellen sie fest, dass die Sache gar nicht so einfach ist.«
»Wie gesagt, die Gottheit möge es verhindern. Ich werde mich mit der Illusion trösten, dass Sie zuerst die Mianaai-Bastardin erschossen hätten.«
»Göttliche!«, warnte ich. Alles, was sie in meiner Hörweite sagte, konnte irgendwann an die Ohren der Herrin der Radch dringen.
»Sie soll es hören. Sie können es ihr selbst sagen! Sie hat initiiert, was letzte Nacht geschah. Ob wir das Ziel waren oder die Tanmind oder Leutnantin Awn, kann ich nicht sagen. Ich habe meinen Verdacht. Ich bin keine Idiotin.«
»Göttliche«, sagte ich. »Wer auch immer die Ereignisse der vergangenen Nacht initiierte, ich glaube nicht, dass sich die Dinge wie gewünscht entwickelten. Ich glaube, man wollte einen offenen Krieg zwischen der Unter- und der Oberstadt, auch wenn ich nicht verstehe, warum. Und ich glaube, das wurde verhindert, als Denz Ay Leutnantin Awn von den Waffen erzählte.«
»Ich denke genauso wie Sie«, sagte die Oberpriesterin. »Und ich glaube, dass Jen Shinnan viel mehr wusste und dass sie aus diesem Grund sterben musste.«
»Es tut mir leid, dass Ihr Tempel entweiht wurde, Göttliche«, sagte ich. Es tat mir nicht besonders leid, dass Jen Shinnan tot war, aber ich sagte es nicht.
Die Göttliche wandte sich wieder von mir ab. »Ich bin mir sicher, dass Sie sehr viel zu tun haben, dass Sie sich auf den Aufbruch vorbereiten müssen. Leutnantin Awn muss sich nicht die Mühe machen, bei mir vorstellig zu werden. Sie können ihr meinen Abschiedsgruß übermitteln.« Sie entfernte sich von mir, ohne auf meine Bestätigung zu warten.
Leutnantin Skaaiat traf mit einer Flasche Arrack und zwei Sieben Issas zum Abendessen ein. »Ihre Ablösung wird Kould Ves auf keinen Fall vor Mittag erreichen«, sagte sie und brach das Siegel an der Flasche. Unterdessen standen die Sieben Issas steif und unbehaglich im Erdgeschoss. Sie waren eingetroffen, kurz bevor ich die Kommunikation wieder aktiviert hatte. Sie hatten die Toten im Tempel der Ikkt gesehen, hatten erraten, was geschehen war, ohne dass es ihnen erzählt worden war. Und sie hatten erst vor zwei Jahren die Frachträume verlassen. Die Annexion selbst hatten sie gar nicht miterlebt.
Überall in Ors, oben wie unten, war es ähnlich still, ähnlich angespannt. Wenn Leute ihre Häuser verließen, vermieden sie es, mich anzusehen oder anzusprechen. Sie gingen fast nur hinaus, um den Tempel zu besuchen, wo die Priesterinnen die Gebete für die Toten abhielten. Ein paar Tanmind kamen sogar von der Oberstadt herunter und standen schweigend am Rand der kleinen Menge. Ich hielt mich im Schatten, weil ich keine weitere Unruhe auslösen wollte.
»Sagen Sie mir, dass Sie sich nicht fast geweigert hätten«, sagte Leutnantin Skaaiat im Obergeschoss des Hauses, wo sie Leutnantin Awn gegenüber hinter einem Wandschirm auf pilzig riechenden Kissen saß. »Ich kenne Sie, Awn, ich schwöre, als ich hörte, was Sieben Issa sah, als sie alle zum Tempel kamen, befürchtete ich, als Nächstes würde ich hören, dass Sie tot sind. Sagen Sie mir, dass Sie es nicht getan haben.«
»Ich habe es nicht getan«, sagte Leutnantin Awn elend und schuldbewusst mit verbitterter Stimme. »Ihnen muss doch klar sein, dass ich es nicht getan habe.«
»Das ist mir nicht klar. Ganz und gar nicht.« Leutnantin Skaaiat goss einen kräftigen Schluck Schnaps in den Becher, den ich ihr hinhielt und dann an Leutnantin Awn weitergab. »Genauso wenig ist es Eins Esk klar, weil sie heute Abend sonst nicht so schweigsam wäre.« Sie betrachtete mein nächstes Segment. »Hat die Herrin der Radch Ihnen verboten zu singen?«
»Nein, Leutnantin.« Ich hatte Anaander Mianaai während ihres Aufenthalts nicht stören wollen, und ich hatte auch Leutnantin Awn nicht am Schlafen hindern wollen. Außerdem war mir gar nicht danach zumute gewesen.
Leutnantin Skaaiat stieß einen frustrierten Laut aus und wandte sich wieder Leutnantin Awn zu. »Hätten Sie sich geweigert, hätte sich nichts geändert, nur dass dann auch Sie tot gewesen wären. Sie taten, was Sie tun mussten, und diese Idioten … bei Hyrs Schwanz, diese Idioten! Sie hätten es besser wissen sollen.«
Leutnantin Awn starrte reglos auf den Becher in ihrer Hand.
»Ich kenne Sie, Awn. Wenn Sie etwas derart Verrücktes tun wollen, heben Sie es sich für eine Gelegenheit auf, bei der Sie tatsächlich etwas bewirken können.«
»Wie Eins Amaat Eins der Gnade der Sarrse?« Sie bezog sich auf Ereignisse in Ime, auf die Soldatin, die ihre Befehle verweigert und den Aufstand vor fünf Jahren angeführt hatte.
»Sie hat zumindest etwas bewirkt. Hören Sie, Awn, Sie und ich wussten, dass etwas im Busch war. Sie und ich wussten, dass die Ereignisse der vergangenen Nacht keinen Sinn ergeben, es sei denn …« Sie verstummte.
Leutnantin Awn stellte abrupt ihren Becher mit Arrack ab. Die Flüssigkeit schwappte über den Rand des Gefäßes. »Es sei denn was? Wie würde es Sinn ergeben?«
»Hier.« Leutnantin Skaaiat hob den Becher auf und drückte ihn Leutnantin Awn in die Hand. »Trinken Sie. Und ich werde es Ihnen erklären. Zumindest insofern, als es für mich Sinn ergibt.«
»Sie wissen, wie eine Annexion abläuft. Ich meine, ja, es handelt sich unbestreitbar um einen rein gewaltsamen Akt, aber anschließend. Nach den Exekutionen und den Deportationen und wenn auch die letzten Idioten, die glauben, dass sie Widerstand leisten können, ausgeschaltet sind. Sobald all das erledigt ist, fügen wir jene, die übrig geblieben sind, in die Radchaai-Gesellschaft ein — sie finden sich zu Häusern zusammen, übernehmen Klientinnen, und nach ein oder zwei Generationen sind sie genauso Radchaai wie alle anderen. Und das geschieht hauptsächlich deshalb, weil wir uns an die Spitze der lokalen Hierarchie wenden, die es fast immer gibt, und wir diesen Leute alle möglichen Vorteile verschaffen, wenn sie sich wie Bürgerinnen verhalten, wir Klientinnenverträge mit ihnen abschließen, die ihnen wiederum erlauben, jenen, die unter ihnen stehen, Verträge anzubieten. Und bevor man sich versieht, ist die ganze neue Welt fest in die Radchaai-Gesellschaft eingebunden, abgesehen von minimalen Störungen.«