Strigan berührte die Oberseite der schwarzen Fläche, die ich immer noch in den Händen hielt. Grau breitete sich von ihren Fingern in einen dicken Riemen aus, der neben der Waffe lag. »Ich war mir nicht sicher, was das ist. Wissen Sie es?«
»Eine Rüstung.« Offizierinnen und menschliche Soldatinnen benutzten äußerlich getragene Rüstungseinheiten, anders als die Sorte, die in den Körper eingepflanzt wurde. Wie bei mir. Aber vor tausend Jahren hatte jede Implantate erhalten.
»Sie hat nie irgendeinen Alarm ausgelöst, wurde nie von irgendeinem Scanner angezeigt, durch den ich gegangen bin.« Das war es, was ich haben wollte. Die Fähigkeit, jede Radchaai-Station betreten zu können, ohne irgendjemanden auf die Tatsache aufmerksam zu machen, dass ich bewaffnet war. Die Fähigkeit, in Gegenwart von Anaander Mianaai eine Waffe zu tragen, ohne dass irgendwer es bemerkte. Die meisten Anaanders benötigten keine Rüstung. Eine durchschießen zu können war nur eine Zugabe.
»Wie macht sie das?«, fragte Strigan. »Wie verbirgt sie sich?«
»Ich weiß es nicht.« Ich legte die Fläche zurück und dann auch den äußeren Deckel.
»Was glauben Sie, wie viele von den Bastarden Sie töten können?«
Ich blickte auf, wandte mich von der Kiste und der Waffe ab, vom unwahrscheinlichen Ziel nach fast zwanzig Jahren Mühe, genau vor mir, real und solide. In meinen Händen. Ich wollte sagen: So viele, wie ich erreichen kann, bevor sie mich überwältigen. Aber realistisch betrachtet konnte ich nur darauf hoffen, einen einzigen Körper von Tausenden zu erwischen. Andererseits hätte ich realistisch betrachtet niemals damit rechnen können, diese Waffe zu finden. »Das hängt davon ab«, sagte ich.
»Wenn Sie eine verzweifelte, hoffnungslose, trotzige Tat begehen wollen, sollten Sie Ihre Sache gut machen.«
Ich gestikulierte zustimmend. »Ich beabsichtige, eine Audienz zu beantragen.«
»Werden Sie eine bekommen?«
»Vermutlich. Jede Bürgerin kann eine beantragen und wird sie mit hoher Wahrscheinlichkeit bekommen. Ich würde nicht als Bürgerin gehen …«
Strigan schnaufte. »Wie wollen Sie als Nicht-Radchaai durchgehen?«
»Ich werde die Docks eines Provinzpalastes betreten, ohne Handschuhe oder mit den falschen, meine fremde Herkunft bekanntgeben und mit Akzent sprechen. Mehr wird nicht erforderlich sein.«
Sie blinzelte. Runzelte die Stirn. »Wohl kaum.«
»Ich versichere es Ihnen. Als Nicht-Bürgerin hängen meine Chancen, eine Audienz zu bekommen, von meinen Gründen ab, warum ich eine beantrage.« Diesen Teil hatte ich noch nicht vollständig durchdacht. Es hing davon ab, was ich vorfand, wenn ich dort eintraf. »Manche Dinge lassen sich nicht zu weit im Voraus planen.«
»Und was werden Sie seinetwegen unternehmen …?« Sie deutete mit einer Hand auf die bewusstlose Seivarden.
Ich hatte es bisher vermieden, mir selbst diese Frage zu stellen. Von dem Augenblick an, als ich sie gefunden hatte, hatte ich es vermieden, weiter als einen Schritt vorauszudenken, wenn es darum ging, was ich mit Seivarden tun sollte.
»Behalten Sie ihn im Auge«, sagte sie. »Er könnte den Punkt erreicht haben, an dem er das Kef endgültig aufgegeben hat, aber ich glaube es nicht.«
»Warum nicht?«
»Er hat mich nicht um Hilfe gebeten.«
Jetzt war ich es, die eine skeptische Augenbraue hob. »Würden Sie ihm helfen, wenn er Sie fragen würde?«
»Ich würde tun, was ich kann. Obwohl er sich natürlich den Problemen stellen muss, die zur Sucht geführt haben, wenn es langfristig funktionieren soll. Doch ich sehe keine Anzeichen an ihm, die in diese Richtung deuten.« Insgeheim stimmte ich ihr zu, aber ich sagte nichts dazu.
»Er hätte jederzeit um Hilfe bitten können«, fuhr Strigan fort. »Er ist jetzt — wie lange? — seit mindestens fünf Jahren umhergeirrt. Jeder Arzt hätte ihm helfen können, wenn er es gewollt hätte. Aber das würde bedeuten, dass er zugeben müsste, ein Problem zu haben, nicht wahr? Und ich glaube nicht, dass das in absehbarer Zeit geschehen wird.«
»Es wäre das Beste, wenn s… — wenn er in die Radch zurückkehrt.« Radch-Medizinerinnen konnten alle ihre Probleme lösen. Und sie würden sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, ob Seivarden sie um Hilfe bat oder sie überhaupt in Anspruch nehmen wollte.
»Er wird nicht in die Radch zurückkehren, solange er sich nicht eingesteht, dass er ein Problem hat.«
Ich gestikulierte: Nicht mein Problem. »Er kann gehen, wohin er will.«
»Aber Sie geben ihm zu essen, und zweifellos werden Sie seine Fahrtkosten für die Reise zum Lift übernehmen und in welches System auch immer Sie als Nächstes weiterfliegen. Er wird bei Ihnen bleiben, solange es für ihn von Vorteil ist, solange er Essen und Unterkunft bekommt. Und er wird alles stehlen, von dem er glaubt, es könnte ihm etwas Kef verschaffen.«
Seivarden war nicht mehr so stark, wie sie einst gewesen war, auch nicht mehr so klar im Kopf. »Glauben Sie, dass ihm das so leicht gelingen wird?«
»Nein«, räumte Strigan ein, »aber er wird sehr entschlossen sein.«
»Ja.«
Strigan schüttelte den Kopf, als wollte sie eine Benommenheit vertreiben. »Was tue ich eigentlich? Sie werden ohnehin nicht auf mich hören.«
»Ich höre Ihnen zu.«
Doch sie schien mir nicht zu glauben. »Es geht mich überhaupt nichts an, ich weiß. Aber …« Sie zeigte auf die schwarze Kiste. »Töten Sie einfach so viele Mianaais, wie Sie können. Und schicken Sie ihn nicht zu mir.«
»Sie gehen?« Natürlich. Es war nicht nötig, eine so idiotische Frage zu beantworten, weshalb sie sich gar nicht die Mühe machte. Stattdessen kehrte sie in ihr Zimmer zurück, sagte nichts mehr und schloss die Tür.
Ich öffnete meinen Rucksack, nahm das Geld heraus und legte es auf den Tisch, schob stattdessen die schwarze Kiste hinein. Berührte sie in dem Muster, das sie verschwinden ließ, nur noch zusammengelegte Hemden, ein paar Pakete mit Trockennahrung. Dann ging ich zu Seivarden hinüber und stieß sie mit meiner Stiefelspitze an. »Wachen Sie auf.« Sie schreckte hoch, setzte sich abrupt auf, warf sich mit dem Rücken gegen die nächste Bank, atmete schwer. »Wachen Sie auf«, wiederholte ich. »Wir gehen.«
12
Abgesehen von den Stunden, in denen die Kommunikation unterbrochen war, hatte ich eigentlich nie das Gefühl dafür verloren, ein Teil der Gerechtigkeit der Torren zu sein. Meine vielen Kilometer aus weißwandigen Korridoren, meine Kapitänin, die Dekaden-Kommandantinnen, die Leutnantinnen jeder Dekade, die kleinste Geste von allen, jeder Atemzug, alles war für mich sichtbar. Ich hatte nie das Wissen über meine Hilfseinheiten verloren, die jeweils zwanzig Körper von Eins Amaat, Eins Torren, Eins Etrepa, Eins Bo und Zwei Esk, die Hände und Füße, die diesen Offizieren dienten, die Stimmen, die zu ihnen sprachen. Meine mehrere Tausend Hilfseinheiten im Kälteschlaf. Ich hatte auch nie den Blick auf Shis’urna verloren, blau und weiß, alte Grenzen und Aufteilungen durch die Ferne ausgelöscht. Aus dieser Perspektive waren die Ereignisse in Ors gar nichts, unsichtbar und absolut unbedeutend.
Während des Anflugs mit dem Shuttle spürte ich, wie sich die Distanz verringerte, spürte immer intensiver, das Schiff zu sein. Eins Esk wurde wieder mehr das, was sie schon immer gewesen war — ein kleiner Teil von mir. Meine Aufmerksamkeit wurde nicht mehr von Dingen beansprucht, die sich außerhalb des Schiffes befanden.
Zwei Esk hatte die Stelle von Eins Esk übernommen, während Eins Esk auf dem Planeten gewesen war. Im Esk-Dekadenraum bereitete Zwei Esk Tee für ihre Leutnantinnen zu — meine Leutnantinnen. Sie schrubbte den weißwandigen Korridor vor Esks Badezimmern, reparierte Uniformen, die beim Landgang beschädigt worden waren. Zwei meiner Leutnantinnen saßen an einem Spielbrett im Dekadenraum, schoben Steine hin und her, schnell und leise, während drei andere zuschauten. Die Leutnantinnen der Dekaden Amaat, Torren, Etrepa und Bo, die Dekaden-Kommandantinnen, Hundert-Kapitänin Rubran, die Verwaltungsoffizierinnen und Ärztinnen unterhielten sich, schliefen, badeten, je nach ihrem Zeitplan und ihrer Neigung.