In der Zwischenzeit widmeten sich meine Kapitänin und alle meine anderen Offizierinnen ihren alltäglichen Routineaufgaben — Ausbildung, Training, Mahlzeiten, Unterhaltungen —, ohne irgendetwas davon zu ahnen, dass sich die Herrin der Radch an Bord befand. An dem Ganzen stimmte etwas nicht.
Die Herrin der Radch beobachtete, wie meine Esk-Leutnantinnen beim Frühstück diskutierten. Dreimal. Ohne sichtliche Änderung des Gesichtsausdrucks. Eins Var servierte Tee neben dem Ellbogen der beiden identischen schwarz gekleideten Körper im Var-Dekadenraum.
»Leutnantin Awn«, sagte eine Anaander. »War sie seit dem Zwischenfall irgendwo, ohne dass du dabei warst?« Sie machte keine genaueren Angaben, welchen Zwischenfall sie meinte, aber sie konnte nur den Vorfall im Tempel der Ikkt meinen.
»Nein, sie war es nicht, Herrin«, sagte ich und benutzte Eins Vars Mund.
Auf meinem zentralen Zugangsdeck tippte die Herrin der Radch Zugangs- und Vorrangkodes ein, die ihr erlaubten, fast alles in meinem Bewusstsein zu ändern, was sie zu ändern wünschte. Ungültig, ungültig, ungültig. Ein Kode nach dem anderen. Aber jedes Mal ließ ich mein Einverständnis aufblitzen, bestätigte den Zugriff, den sie eigentlich gar nicht hatte. Ich empfand so etwas wie Übelkeit, begann zu verstehen, was geschehen sein musste, aber ich konnte auf keine Erinnerungen zugreifen, die meinen Verdacht bestätigt hätten, die die Angelegenheit für mich klar und eindeutig gemacht hätten.
»Hat sie zu irgendeinem Zeitpunkt mit irgendjemandem über diesen Zwischenfall gesprochen?«
So viel stand fest — Anaander Mianaai handelte gegen sich selbst. Im Geheimen. Sie war zweigeteilt — mindestens zweigeteilt. Ich konnte nur Spuren der anderen Anaander erkennen, derjenigen, die die Zugriffsberechtigung geändert hatte, den Zugriff, von dem sie glaubte, dass sie ihn erst jetzt zu ihren Gunsten änderte.
»Hat sie zu irgendeinem Zeitpunkt mit irgendjemandem über diesen Zwischenfall gesprochen?«
»Kurz, Herrin«, sagte ich. Und hatte zum ersten Mal in meinem langen Leben echte Angst. »Mit Leutnantin Skaaiat von der Gerechtigkeit der Ennte.« Wie konnte meine Stimme — die von Eins Var — so ruhig sprechen? Wie konnte ich überhaupt wissen, welche Worte ich sprechen sollte, welche Antwort ich geben sollte, wenn die gesamte Grundlage für all meine Handlungen — selbst die Gründe für meine Existenz — in Zweifel gezogen wurden?
Eine Mianaai runzelte die Stirn — nicht die, die gesprochen hatte. »Skaaiat«, sagte sie mit leichtem Missfallen. Schien sich meiner plötzlichen Angst nicht bewusst zu sein. »Ich hatte Awer schon seit einiger Zeit in Verdacht.« Awer war der Hausname von Leutnantin Skaaiat, aber was das mit den Ereignissen im Tempel der Ikkt zu tun hatte, konnte ich nicht erkennen. »Ich habe nie einen Beweis gefunden.« Auch das blieb für mich rätselhaft. »Spiel mir das Gespräch vor.«
Als Leutnantin Skaaiat sagte: Wenn Sie etwas derart Verrücktes tun wollen, heben Sie es sich für eine Gelegenheit auf, bei der Sie tatsächlich etwas bewirken können, beugte sich ein Körper abrupt vor und stieß ein gehauchtes Ha aus, einen Laut der Verärgerung. Kurz darauf, als Ime erwähnt wurde, zuckten Augenbrauen. Für einen Moment befürchtete ich, dass die Herrin der Radch meine Bestürzung über den unbedachten, offen gesagt gefährlichen Tenor dieser Unterhaltung bemerken würde, aber sie ging mit keinem Wort darauf ein. Vielleicht hatte sie es nicht gesehen, wie sie auch meine tiefe Verwirrung über die Erkenntnis, dass sie nicht mehr eine, sondern zwei Personen war, die im Konflikt miteinander standen, nicht bemerkt hatte.
»Kein Beweis. Kein hinreichender«, sagte Mianaai. »Aber gefährlich. Awer sollte auf meiner Seite stehen.« Warum sie das dachte, verstand ich nicht sofort. Awer war direkt aus der Radch hervorgegangen, hatte von Anfang an genug Wohlstand und Einfluss gehabt, um sich Kritik erlauben zu dürfen, und hatte tatsächlich Kritik geübt, wenn auch für gewöhnlich mit Raffinesse, um sich aus echten Schwierigkeiten herauszuhalten.
Ich hatte das Haus Awer schon seit sehr langer Zeit gekannt, hatte seine jungen Leutnantinnen transportiert, sie als Kapitäninnen anderer Schiffe kennengelernt. Zugegeben, keine Awer, die für den Militärdienst geeignet war, äußerte wirklich in vollem Ausmaß die Ansichten ihres Hauses. Ein übermäßig ausgeprägter Sinn für Ungerechtigkeit oder ein Hang zum Mystizismus vertrugen sich nicht besonders gut mit Annexionen. Auch nicht mit Wohlstand und sozialem Status — die moralische Empörung einer Awer roch unvermeidlich nach Heuchelei, angesichts der Annehmlichkeiten und Privilegien, die ein so altes Haus genoss. Vor manchen Ungerechtigkeiten konnte sie nicht die Augen verschließen, während sie andere niemals zur Kenntnis nahm.
Jedenfalls war Leutnantin Skaaiats sarkastische Sachlichkeit kein fremder Charakterzug ihres Hauses. Es war lediglich eine mildere, pragmatische Form der familiären Neigung zur moralischen Empörung.
Zweifellos glaubte jede Anaander, dass ihre Sache die gerechtere war. (Je anständiger, desto nützlicher. Ganz gewiss.) Bei ihrem Gerechtigkeitssinn sollten die Bürgerinnen des Hauses Awer die Seite mit mehr Anstand unterstützen. Vorausgesetzt, sie wussten überhaupt, dass es verschiedene Seiten gab.
Und auch vorausgesetzt, dass irgendein Teil von Anaander Mianaai davon überzeugt war, dass irgendeine Awer von ihrer Leidenschaft für Gerechtigkeit getrieben wurde und nicht von eigenen Interessen, die durch Selbstgerechtigkeit kaschiert wurden.
Trotzdem. Es war immer noch möglich, dass irgendein Teil von Anaander Mianaai glaubte, dass Awer (oder eine bestimmte Awer) nur von der Gerechtigkeit ihrer Sache überzeugt werden musste, um sie zu verfechten. Und bestimmt wusste sie, dass Awer — irgendeine Awer — zu ihrer unversöhnlichen Feindin werden würde, wenn sie nicht überzeugt werden konnte.
»Und Suleir …« Anaander Mianaai wandte sich Eins Var zu, die schweigend neben dem Tisch stand. »Dariet Suleir scheint eine Verbündete von Leutnantin Awn zu sein. Warum?«
Die Frage beunruhigte mich aus Gründen, die ich nicht genau benennen konnte. »Ich kann mir nicht absolut sicher sein, Herrin, aber ich glaube, Leutnantin Dariet betrachtet Leutnantin Awn als fähige Offizierin, und natürlich fügt sie sich ihr als Vorgesetzte der Dekade.« Und sie fühlte sich vielleicht in ihrer eigenen Stellung sicher genug, um es Leutnantin Awn nicht übelzunehmen, dass sie die Befehlsgewalt über sie hatte. Im Gegensatz zu Leutnantin Issaaia. Aber das sagte ich nicht.
»Also hat es nichts mit persönlichen Sympathien zu tun?«
»Leider verstehe ich nicht, was Sie meinen, Herrin«, sagte ich, durchaus aufrichtig, aber mit zunehmender Beunruhigung.
Ein anderer Mianaai-Körper meldete sich zu Wort. »Versuchst du, mir gegenüber die Dumme zu spielen, Schiff?«
»Ich bitte die Herrin um Verzeihung«, antwortete ich, immer noch durch den Mund von Eins Var, »aber wenn ich wüsste, wonach meine Herrin sucht, wäre ich besser in der Lage, relevante Daten zur Verfügung zu stellen.«
Statt einer Antwort sagte Mianaai: »Gerechtigkeit der Torren, wann habe ich dich das letzte Mal besucht?«
Wären die Zugriffs- und Vorrangkodes gültig gewesen, wäre ich nicht in der Lage gewesen, der Herrin der Radch irgendetwas zu verheimlichen. »Vor zweihundertdrei Jahren, vier Monaten, einer Woche und fünf Tagen, Herrin«, log ich, nachdem mir nun die Bedeutsamkeit dieser Frage bewusst war.
»Gib mir deine Erinnerungen an den Zwischenfall im Tempel«, befahl Mianaai, und ich gehorchte.
Und log erneut. Obwohl nahezu jeder Augenblick aller individuellen Datenübertragungen unverändert war, fehlte der Moment des Entsetzens und Zweifels, als ein Segment befürchtete, es müsste Leutnantin Awn erschießen.