»Sie könnten durchaus zur einen oder anderen Richtung neigen«, stellte Mianaai fest.
»Das kann ich nicht beurteilen, Herrin.« Meine Besorgnis wuchs, aber auf recht distanzierte Weise. Vielleicht war es die völlige Reaktionslosigkeit meiner Hilfseinheiten, die das Gefühl so fern und unwirklich machte. Ich kannte einige Schiffe, die ihre Besatzung aus Hilfseinheiten gegen Menschen ausgetauscht hatten und sagten, dass sich danach ihr emotionales Empfinden verändert hatte, obwohl es mir anhand der Daten, die sie mir gezeigt hatten, recht unwahrscheinlich vorkam.
Der Gesang von Eins Esk drang leise an die Ohren von Leutnantin Awn und Leutnantin Dariet, ein einfaches Lied aus zwei Teilen.
»Ich bin froh, dass Eins Esk wieder sie selbst ist«, sagte Leutnantin Dariet. »Am ersten Tag war sie mir unheimlich.«
»Zwei Esk hat nicht gesungen«, gab Leutnantin Awn zu bedenken.
»Richtig, aber …« Leutnantin Dariet gestikulierte zweifelnd. »Es war nicht richtig.« Sie sah Leutnantin Awn mit gespanntem, fragendem Gesichtsausdruck an.
»Ich kann nicht darüber sprechen«, sagte Leutnantin Awn und legte sich wieder hin, verschränkte die Arme über den Augen.
Auf dem Kommandodeck traf sich Hundert-Kapitänin Rubran mit den Dekaden-Kommandantinnen, um Tee zu trinken und über Zeitpläne zu reden.
»Du hast Hundert-Kapitänin Rubran nicht erwähnt«, sagte Mianaai im Var-Dekadenraum.
Richtig. Ich kannte Kapitänin Rubran außergewöhnlich gut, kannte jeden Atemzug von ihr, jedes Zucken ihrer Muskeln. Sie war schon seit sechsundfünfzig Jahren meine Kapitänin. »Ich habe von ihr nie eine Meinungsäußerung in dieser Angelegenheit gehört«, sagte ich, relativ wahrheitsgemäß.
»Nie? Dann besteht kein Zweifel, dass sie eine Meinung hat und sie verheimlicht.«
Das hörte sich für mich nach einer Zwickmühle an. Wenn man sprach, war für jeden offensichtlich und klar, dass man eine Meinung hatte. Wenn man nicht sprach, war es trotzdem ein Beweis, dass man eine Meinung hatte. Falls Kapitänin Rubran sagte: Wirklich, ich habe zu dieser Sache keine Meinung, wäre das dann nicht lediglich der Beweis, dass sie doch eine hatte?
»Zweifellos war sie anwesend, als andere darüber diskutiert haben«, fuhr Mianaai fort. »Was hat sie in solchen Situationen empfunden?«
»Leichte Verärgerung«, antwortete ich durch Eins Var. »Ungeduld. Manchmal Langeweile.«
»Verärgerung«, sinnierte Mianaai. »Worüber, frage ich mich.« Da ich die Antwort nicht wusste, sagte ich nichts. »Ihre Familienbande sind dergestalt, dass ich mir nicht sicher sein kann, wie ihre Sympathien gelagert sind. Und einige Angehörige ihres Hauses möchte ich nicht verstimmen, bevor ich offen agieren kann. Ich muss bei Kapitänin Rubran sehr vorsichtig vorgehen. Aber sie wird es ebenfalls tun.«
Mit sie meinte sie natürlich sich selbst.
Es hatte keinen Versuch gegeben, meine Sympathien in Erfahrung zu bringen. Vielleicht — nein, mit Sicherheit — waren sie irrelevant. Und ich war dem Weg, auf den mich die andere Mianaai geführt hatte, bereits ein gutes Stück gefolgt. Diese Mianaais und die vier Segmente von Eins Var, die aufgetaut worden waren, um ihr zu dienen, ließen das Var-Deck nur umso leerer erscheinen, genauso wie alle Decks zwischen diesem und meinen Triebwerken. Hunderttausende von Hilfseinheiten schliefen in meinen Frachträumen, und man würde sie wahrscheinlich innerhalb der nächsten paar Jahre entfernen, um sie entweder einzulagern oder zu vernichten, um sie nie wieder aufwachen zu lassen. Und mich würde man irgendwo in einem permanenten Orbit parken. Und meine Triebwerke mit hoher Wahrscheinlichkeit funktionsunfähig machen. Oder man würde mich komplett vernichten — obwohl das bislang mit keiner von uns geschehen war, und ich war mir ziemlich sicher, dass ich wohl eher als Habitat dienen würde oder vielleicht als Kernstück einer kleinen Raumstation.
Nicht das Leben, für das ich erbaut worden war.
»Nein, mit Rubran Osck darf ich nichts überstürzen. Aber deine Leutnantin Awn ist eine andere Angelegenheit. Vielleicht kann sie mir nützlich sein, um herauszufinden, wo Awer steht.«
»Herrin«, sagte ich durch einen von Eins Vars Mündern. »Ich bin außerstande, die Geschehnisse zu verstehen. Ich würde mich erheblich wohler fühlen, wenn die Hundert-Kapitänin wüsste, dass Sie hier sind.«
»Ist es dir unangenehm, deiner Kapitänin etwas zu verheimlichen?«, fragte Anaander mit einem Tonfall, der zu gleichen Teilen verbittert und amüsiert klang.
»Ja, Herrin. Natürlich werde ich exakt so vorgehen, wie Sie mir befehlen.« Ich hatte ein plötzliches Déjà-vu-Gefühl.
»Natürlich. Ich sollte einige Punkte erklären.« Das Déjà-vu-Gefühl wurde stärker. Ich hatte dieses Gespräch mit der Herrin der Radch schon einmal geführt, unter fast genau den gleichen Umständen. Du weißt, dass jedes Segment deiner Hilfseinheiten durchaus in der Lage ist, eine eigene Identität zu besitzen, würde sie als Nächstes sagen. »Du weißt, dass jedes Segment deiner Hilfseinheiten durchaus in der Lage ist, eine eigene Identität zu besitzen.«
»Ja.« Jedes einzelne Wort klang vertraut. Ich konnte es spüren, als würden wir einen Text rezitieren, den wir auswendig gelernt hatten. Als Nächstes würde sie sagen: Stell dir vor, du wärst wegen irgendeiner Sache unentschlossen.
»Stell dir vor, irgendeine Feindin hätte einen Teil von dir von deiner Persönlichkeit separiert.«
Das war nicht das, was ich erwartet hatte. Was sagen die Leute, wenn etwas Derartiges geschieht? So jemand ist gespalten, hat zwei Persönlichkeiten.
»Stell dir vor, dieser Feindin würde es gelingen, alle notwendigen Zugriffsperren zu überwinden, durch Geschick oder Gewalt. Und dann kehrt dieser Teil zu dir zurück — allerdings wäre es in Wirklichkeit gar kein Teil von dir mehr. Aber du erkennst es nicht. Zumindest nicht sofort.«
Sie und ich, wir können wirklich zwei Persönlichkeiten haben, nicht wahr?
»Das ist eine sehr beunruhigende Vorstellung, Herrin.«
»Das ist es«, stimmte Anaander Mianaai zu, während sie die ganze Zeit im Dekadenraum saß und die Korridore und Räume des Var-Decks inspizierte. Während sie Leutnantin Awn beobachtete, die wieder allein und unglücklich war. Während sie sich auf dem zentralen Zugangsdeck durch meinen Geist gestikulierte. Oder zumindest glaubte, es zu tun. »Ich weiß nicht genau, wer es getan hat. Ich vermute eine Beteiligung der Presger. Seit der Zeit vor dem Vertrag haben sie sich immer wieder in unsere Angelegenheiten eingemischt. Und danach, vor fünfhundert Jahren, wurden die besten chirurgischen Instrumente und Korrektiva im Radch-Territorium hergestellt. Nun kaufen wir sie von den Presger. Anfangs nur in Grenzstationen, aber jetzt sind sie überall. Vor achthundert Jahren war das Übersetzungsbüro eine Ansammlung von kleineren Beamtinnen, die bei der Interpretation von Nicht-Radch-Intelligenzen assistierten und die linguistischen Probleme während der Annexionen ausglichen. Jetzt diktieren sie die Politik. Insbesondere die Abgesandte der Presger.« Der letzte Satz wurde mit hörbarer Abneigung gesprochen. »Vor dem Vertrag zerstörten die Presger ein paar Schiffe. Nun zerstören sie die gesamte Radch-Zivilisation.
Expansion und Annexion sind sehr kostspielig. Und notwendig — von Anfang an. Zuerst, um die Radch selbst mit einer Pufferzone zu umgeben, sie vor jeder Art von Angriff oder Einflussnahme zu schützen. Später, um wiederum diese Bürgerinnen zu beschützen. Und um die Zivilisation weiter auszudehnen. Und …« Mianaai hielt inne, stieß einen kurzen, verzweifelten Seufzer aus. »Um für die vorherigen Annexionen zu bezahlen. Um den allgemeinen Wohlstand der Radchaai zu sichern.«