15
Irgendwann öffnete ich wieder die Augen, weil ich glaubte, Stimmen gehört zu haben. Um mich herum war nur Blau. Ich versuchte zu blinzeln und stellte fest, dass ich nur die Augen schließen und sie geschlossen halten konnte.
Einige Zeit später öffnete ich erneut die Augen und drehte den Kopf nach rechts. Dort sah ich Seivarden und das Mädchen vor einem Tiktik-Brett hocken. Also träumte oder halluzinierte ich. Wenigstens hatte ich keine Schmerzen mehr, was nach gründlicherer Überlegung ein schlechtes Zeichen war. Aber ich konnte mich nicht dazu aufraffen, mir deswegen Sorgen zu machen. Also schloss ich wieder die Augen.
Schließlich erwachte ich zu vollem Bewusstsein und fand mich in einem kleinen Raum mit blauen Wänden wieder. Ich lag in einem Bett, und auf einer Bank daneben saß Seivarden, gegen die Wand gelehnt. Sie sah aus, als hätte sie längere Zeit nicht geschlafen. Oder eher so, als hätte sie in letzter Zeit nicht so viel geschlafen wie gewöhnlich.
Ich hob den Kopf. Meine Arme und Beine waren durch Korrektiva fixiert.
»Sie sind wach«, sagte Seivarden.
Ich legte den Kopf wieder zurück. »Wo ist mein Rucksack?«
»Hier.« Sie bückte sich und hob ihn in mein Sichtfeld.
»Wir befinden uns in der Klinik in Therrod«, riet ich und schloss die Augen.
»Ja. Glauben Sie, dass Sie mit der Ärztin reden können? Ich verstehe kein Wort von dem, was sie sagt.«
Ich erinnerte mich an meinen Traum. »Sie haben gelernt, Tiktik zu spielen.«
»Das ist etwas anderes.« Also doch kein Traum.
»Sie haben den Flieger verkauft.« Keine Antwort. »Sie haben Kef gekauft.«
»Nein«, protestierte sie. »Ich wollte es tun. Aber als ich aufwachte und Sie gegangen waren …« Ich hörte, wie sie unbehaglich auf der Bank herumrutschte. »Ich wollte einen Dealer suchen, aber ich habe mir Sorgen gemacht, weil Sie weg waren, und ich nicht wusste, wo Sie waren. Ich dachte darüber nach, ob Sie mich vielleicht zurückgelassen hatten.«
»Das alles wäre Ihnen egal gewesen, wenn Sie das Kef genommen hätten.«
»Aber ich hatte kein Kef«, sagte sie in überraschend vernünftigem Tonfall. »Und dann ging ich zur Rezeption und stellte fest, dass Sie ausgecheckt hatten.«
»Und Sie beschlossen, nach mir und nicht nach einem Kef-Dealer zu suchen«, sagte ich. »Das glaube ich Ihnen nicht.«
»Ich kann Ihnen keinen Vorwurf machen.« Sie schwieg fünf Sekunden lang. »Ich habe hier gesessen und nachgedacht. Ich habe Sie beschuldigt, mich zu hassen, weil ich besser war als Sie.«
»Das ist nicht der Grund, warum ich Sie hasse.«
Sie ging nicht darauf ein. »Bei Amaats Gnade, dieser Sturz … es war meine Schuld, meine Dummheit. Ich war mir sicher, dass ich tot war, und wenn es andersherum passiert wäre, wäre ich niemals gesprungen, um irgendwem das Leben zu retten. Sie haben sich niemals niedergekniet, um etwas zu erreichen. Sie sind dort, wo Sie sind, weil Sie verdammt fähig sind und bereit, alles zu riskieren, um es richtig zu machen, und ich werde nie auch nur die Hälfte dessen sein, was Sie sind, selbst wenn ich mich mein ganzes Leben lang anstrengen würde, und ich dachte die ganze Zeit, ich wäre besser als Sie, selbst halbtot und völlig nutzlos, weil meine Familie alt ist, weil ich besser geboren wurde.«
»Das«, sagte ich, »ist der Grund, warum ich Sie hasse.«
Sie lachte, als hätte ich etwas halbwegs Geistreiches gesagt. »Wenn Sie bereit sind, so etwas für eine Person zu tun, die Sie hassen, was würden sie dann für eine tun, die Sie lieben?«
Ich stellte fest, dass ich darauf keine Antwort geben konnte. Zum Glück kam die Ärztin herein, breit, mit rundem Gesicht, blass. Sie runzelte leicht die Stirn, tat es noch mehr, als sie mich sah. »Wie es scheint«, sagte sie in gleichmäßigem Tonfall, der unbefangen klang, aber Missbilligung implizierte, »verstehe ich Ihren Freund nicht, wenn er versucht zu erklären, was geschehen ist.«
Ich sah Seivarden an, die eine hilflose Geste machte und sagte: »Ich verstehe kein einziges Wort. Ich habe mir alle Mühe gegeben, aber den ganzen Tag lang ernte ich von ihr nur diesen Blick, als wäre ich biologischer Abfall, in den sie getreten ist.«
»Wahrscheinlich ist es ihr normaler Gesichtsausdruck.« Ich wandte mich wieder der Ärztin zu. »Wir sind von der Brücke gefallen«, teilte ich ihr mit.
Der Ausdruck der Ärztin änderte sich nicht. »Sie beide?«
»Ja.«
Ein Augenblick der leidenschaftslosen Stille, dann: »Es bringt nichts, gegenüber seinem Arzt unaufrichtig zu sein.« Und als ich nichts dazu sagte: »Sie wären nicht die ersten Touristen, die ein Sperrgebiet betreten und sich verletzen. Sie sind jedoch die ersten, die behaupten, von der Brücke gefallen zu sein und es überlebt zu haben. Ich weiß nicht, ob ich eine solche Unverfrorenheit bewundern oder wütend auf Sie sein soll, weil Sie mich zum Narren halten wollen.«
Ich sagte immer noch nichts. Ich konnte mir keine Geschichte ausdenken, die meine Verletzungen überzeugender als die Wahrheit erklärte.
»Mitglieder von militärischen Streitkräften müssen sich bei Ankunft im System registrieren lassen«, fuhr die Ärztin fort.
»Ich erinnere mich, davon gehört zu haben.«
»Haben Sie sich registrieren lassen?«
»Nein, weil ich kein Mitglied irgendeiner militärischen Streitkraft bin.« Das war nicht völlig gelogen. Ich war kein Mitglied, sondern ein Teil der Ausrüstung. Ein einsames, nutzloses Fragment der Ausrüstung, um genau zu sein.
»Diese Klinik ist nicht dafür eingerichtet«, sagte die Ärztin, nur einen Hauch strenger als kurz zuvor, »mit der Art von Implantaten und Verstärkungen umzugehen, über die Sie offenbar verfügen. Ich kann die Resultate der Reparaturen nicht vorhersagen, die ich programmiert habe. Sie sollten einen Arzt aufsuchen, wenn Sie nach Hause zurückgekehrt sind. In die Gerentate.« Diese letzten Worte klangen ein wenig skeptisch, ein leiser Hinweis auf die Zweifel der Ärztin.
»Ich beabsichtige, unverzüglich heimzukehren, sobald ich die Klinik verlassen habe«, sagte ich, aber ich fragte mich, ob die Ärztin uns als potenzielle Spione gemeldet hatte. Ich glaubte nicht daran — hätte sie es getan, hätte sie es wahrscheinlich vermieden, irgendeinen Verdacht zum Ausdruck zu bringen, und stattdessen darauf gewartet, dass sich die Behörden mit uns auseinandersetzten. Also hatte sie es nicht getan. Warum nicht?
Eine mögliche Antwort streckte den Kopf ins Zimmer und rief fröhlich: »Breq! Sie sind wach! Onkel liegt nur eine Etage höher. Was ist passiert? Ihr Freund scheint uns sagen zu wollen, dass Sie von der Brücke gesprungen sind, aber das ist unmöglich. Geht es Ihnen schon besser?« Nun trat das Mädchen ganz in den Raum. »Hallo, Doktor, wird Breq wieder ganz gesund?«
»Breq wird es bald wieder gutgehen. Die Korrektiva dürften morgen abfallen. Sofern es keine neuen Probleme gibt.« Und mit dieser optimistischen Feststellung drehte sie sich um und verließ das Zimmer.
Das Mädchen setzte sich auf die Bettkante. »Ihr Freund ist ein furchtbarer Tiktik-Spieler. Ich bin froh, dass ich ihm nicht die Glücksspiel-Variante beigebracht habe, weil er sonst kein Geld mehr hätte, um den Doktor zu bezahlen. Und es ist Ihr Geld, nicht wahr? Das aus dem Flieger.«
Seivarden runzelte die Stirn. »Was? Was sagt sie?«
Ich beschloss, den Inhalt meines Rucksacks zu überprüfen, sobald ich die Gelegenheit dazu hatte. »Er hätte es beim Counters zurückgewonnen.«
Das Gesicht des Mädchens verriet, dass sie es mir nicht glaubte. »Sie sollten wirklich nicht unter die Brücke gehen, wissen Sie. Ich kenne jemanden, der einen Freund hatte, dessen Cousine unter die Brücke ging. Dann ließ jemand ein Stück Brot fallen, und es fiel so schnell, dass sie davon am Kopf getroffen wurde. Ihr Schädel brach auf, dann ging es ins Gehirn und tötete sie.«
»Der Gesang deiner Cousine hat mir sehr gefallen.« Ich wollte jeder weiteren Diskussion des Vorfalls aus dem Weg gehen.