»Verzeihen Sie mir«, sagte die Oberpriesterin, obwohl sich Leutnantin Awns Miene nicht verändert hatte und ihre Haut zu dunkel war, um ihre Zornesröte zu zeigen. »Seit uns die Radchaai die Staatsbürgerschaft verliehen haben …« Sie stockte, schien ihre Worte noch einmal zu überdenken. »Seit ihrer Ankunft hat Sieben Issa mir keinen Grund zur Klage gegeben. Aber ich habe gesehen, was Ihre menschlichen Truppen während der sogenannten Annexion angerichtet haben. Die uns gewährte Staatsbürgerschaft könnte jederzeit zurückgezogen werden und …«
»Das würden wir nie …«, protestierte Leutnantin Awn.
Die Oberpriesterin unterbrach sie mit erhobener Hand. »Ich weiß, was Sieben Issa oder andere wie sie mit Personen tun, die ihrer Meinung nach auf der falschen Seite stehen. Noch vor fünf Jahren hatten wir gar keine Bürgerrechte. Und wer weiß, was die Zukunft bringt? Vielleicht sind wir dann Bürger zweiter Klasse?« Sie machte mit der Hand eine Geste der Kapitulation. »Es wird keine Rolle spielen. Solche Ausgrenzungen entstehen schnell.«
»Ich kann Ihnen nicht übelnehmen, dass Sie so denken«, sagte Leutnantin Awn. »Es war eine schwere Zeit.«
»Und ich kann nicht anders, als Sie für unerwartet und unerklärlich naiv zu halten«, sagte die Oberpriesterin. »Eins Esk würde mich sofort erschießen, sollten Sie es anordnen. Ohne zu zögern. Aber Eins Esk würde mich nie ohne Grund schlagen, erniedrigen oder vergewaltigen, nur um ihre Macht über mich zu beweisen oder eine perverse Lust zu befriedigen.« Sie sah mich an. »Nicht wahr?«
»Nein, Göttliche«, sagte ich.
»Die Soldatinnen von Issa der Gerechtigkeit der Ennte haben all das getan. Ich wurde zwar verschont, das ist wahr, wie die meisten in Ors. Doch es gab solche Vorfälle. Hätte sich Sieben Issa anders verhalten, wenn stattdessen Sie hier gewesen wären?«
Leutnantin Awn saß bestürzt da, blickte auf ihren unappetitlichen Tee und hatte dem nichts entgegenzusetzen.
»Schon seltsam. Man hört Geschichten über Hilfseinheiten, die sich wie die schrecklichsten Gräueltaten anhören, die je von den Radchaai begangen wurden. Garsedd — wohl wahr, aber Garsedd war vor tausend Jahren. Aber einfach einmarschieren und die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung gefangen nehmen? Um lebende Leichen aus ihnen zu machen, Sklaven der Künstlichen Intelligenzen Ihrer Schiffe? Gegen ihr eigenes Volk gerichtet? Hätten Sie mich gefragt, bevor Sie uns … annektierten, hätte ich gesagt, es wäre ein schlimmeres Schicksal als der Tod.« Sie wandte sich an mich. »Nicht wahr?«
»Keiner meiner Körper ist tot, Göttliche«, sagte ich. »Und Ihre Schätzung des üblichen Prozentsatzes einer annektierten Bevölkerung, die zu Hilfseinheiten gemacht wird, ist zu hoch gegriffen.«
»Ich hatte immer große Angst vor Ihnen«, sagte die Oberpriesterin zu mir. »Allein der Gedanke, Sie könnten mir zu nahe kommen, mit Ihren leblosen Gesichtern, den monotonen Stimmen, war erschreckend. Aber heute entsetzt mich die Vorstellung einer Einheit lebender, freiwillig dienender Menschen noch viel mehr. Denn ich glaube nicht, dass ich ihnen vertrauen könnte.«
»Göttliche«, sagte Leutnantin Awn mit angespannten Mundwinkeln. »Ich diene freiwillig. Und ich stehe dazu.«
»Ich halte Sie dennoch für eine gute Person, Leutnantin Awn.« Sie nahm die Tasse Tee und trank in kleinen Schlucken, als hätte sie das alles gar nicht gesagt.
Leutnantin Awns Kehle schnürte sich zusammen. Ihr lag etwas auf der Zunge, sie war sich aber nicht sicher, ob sie es aussprechen sollte. »Sie haben von Ime gehört«, sagte sie schließlich. Sie war immer noch angespannt und skeptisch, ob es richtig war, es zur Sprache zu bringen.
Die Oberpriesterin schien unangenehm berührt. »Sollten Neuigkeiten von Ime etwa das Vertrauen in die Radch-Verwaltung stärken?«
Es war Folgendes passiert: Die Station Ime sowie die kleineren Raumstationen und Monde im System waren so weit von einem Provinzpalast entfernt, wie es innerhalb des Radch-Territoriums nur möglich war. Die Gouverneurin von Ime nutzte diese Entfernung jahrelang zu ihrem eigenen Vorteil — sie veruntreute Gelder, ließ sich bestechen, erpresste Schutzgelder, kassierte bei Auftragsvergaben. Tausende von Bürgerinnen waren zu Unrecht hingerichtet oder (was im Grunde dasselbe war) gezwungen worden, als Hilfseinheiten zu dienen, obwohl die Produktion von Hilfseinheiten nicht mehr legal war. Die Gouverneurin kontrollierte sämtliche Kommunikation und Reisegenehmigungen, und normalerweise hätte die KI einer Station derartige Aktivitäten den Behörden gemeldet, doch daran wurde die Station Ime auf irgendeine Weise gehindert, sodass die Korruption überhandnahm und sich ungehindert ausbreiten konnte.
Bis eines Tages ein Schiff im System eintraf, das nur wenige Hundert Kilometer vom Patrouillenschiff Gnade der Sarrse entfernt aus dem Tor-Raum kam. Das fremde Schiff missachtete die Aufforderung, sich zu identifizieren. Als es von der Besatzung der Gnade der Sarrse angegriffen und geentert wurde, stieß man auf Dutzende von Menschen und Aliens vom Volk der Rrrrrr. Die Kapitänin der Gnade der Sarrse befahl ihren Soldatinnen, die Menschen gefangen zu nehmen, die sich als Hilfseinheiten eignen könnten, und die übrigen sowie alle Aliens zu töten. Das Schiff sollte der Gouverneurin des Systems übergeben werden.
Die Gnade der Sarrse war nicht das einzige Kriegsschiff im System, dessen Besatzung aus Menschen bestand. Bis zu jenem Zeitpunkt waren die dort stationierten menschlichen Soldatinnen durch ein System von Bestechungsgeldern, Schmeicheleien, und wenn das nichts half, Drohungen und sogar Hinrichtungen bei der Stange gehalten worden. Sehr erfolgreich bis zu jenem Moment, als sich die Soldatin Eins Amaat der Gnade der Sarrse weigerte, diese Menschen und die Rrrrrr zu töten. Und sie konnte die anderen in ihrer Einheit überzeugen, es ihr gleichzutun.
Das alles hatte sich vor fünf Jahren ereignet. Der Vorfall zeigte bis heute Wirkung.
Leutnantin Awn setzte sich auf ihrem Kissen zurecht. »Die Sache flog auf, weil eine einzige menschliche Soldatin einen Befehl missachtete. Und eine Meuterei anzettelte. Wäre sie nicht gewesen … nun ja. Hilfseinheiten tun so etwas nicht. Dazu sind sie nicht imstande.«
»Die Sache flog auf«, erwiderte die Oberpriesterin, »weil sich im Schiff, das von den menschlichen Soldatinnen geentert wurde, von ihr und dem Rest ihrer Einheit, Aliens befanden. Radchaai haben keine Skrupel, Menschen zu töten, erst recht nicht, wenn es Nicht-Bürgerinnen sind, aber Sie scheuen sich, einen Krieg gegen Aliens zu beginnen.«
Nur weil ein Krieg gegen Aliens gegen den Vertrag mit dem Alienvolk der Presger verstoßen könnte. Eine Verletzung dieser Vereinbarung konnte sehr ernsthafte Konsequenzen haben. Dennoch waren sich viele hochrangige Radchaai bei dem Thema uneinig. Ich sah, dass Leutnantin Awn gern dagegen argumentieren würde. Doch stattdessen sagte sie: »Die Gouverneurin von Ime scheute sich nicht vor dem Krieg. Sie hätte ihn angezettelt, wenn diese eine Person nicht gewesen wäre.«
»Hat man diese Person bereits exekutiert?«, fragte die Oberpriesterin spitz. Die Hinrichtung war das Schicksal jeder Soldatin, die den Befehl verweigerte oder gar eine Meuterei anstiftete.
»Das Letzte, was ich hörte, war«, sagte Leutnantin Awn mit gepresstem und flachem Atem, »dass die Rrrrrr bereit waren, sie der Radch zu übergeben.« Sie schluckte. »Ich weiß nicht, was dann geschehen wird.« Natürlich war es wahrscheinlich längst geschehen, was auch immer es war. Nachrichten von Ime erreichten Shis’urna erst nach einem Jahr oder mehr.
Die Oberpriesterin antwortete zunächst nicht. Sie schenkte sich noch etwas Tee ein und löffelte Fischpaste in eine kleine Schüssel. »Bringt Ihnen meine wiederholte Bitte, weiterhin bei uns zu bleiben, irgendwelche Nachteile?«
»Nein«, sagte Leutnantin Awn. »Die anderen Esk-Leutnantinnen sind sogar etwas neidisch. An Bord der Gerechtigkeit der Torren gibt es nichts zu tun.« Äußerlich ruhig nahm sie ihre Tasse, obwohl es in ihr brodelte. Sie war beunruhigt. Das Gespräch über die Neuigkeiten von Ime hatte ihr Unbehagen verstärkt. »Und wer etwas zu tun hat, kann auf Anerkennung und mögliche Beförderungen hoffen.« Und dies war die letzte Annexion. Die letzte Chance für eine Offizierin, durch Verbindungen zu neuen Bürgerinnen oder durch offene Aneignung ihr Haus zu bereichern.