Ich betrachtete noch einmal die Gehilfin. Wer war sie? Kannte ich sie? War sie die Verwandte einer Person, der ich begegnet war?
»Sie summen schon wieder«, sagte Seivarden leise.
»Verzeihung.« Ich nippte vom Tee. »Das ist eine Angewohnheit von mir. Entschuldigen Sie bitte.«
»Kein Problem«, sagte die Gehilfin und setzte sich ebenfalls auf einen Stuhl. Dies war recht offensichtlich ihr eigenes Büro, was bedeutete, dass sie die unmittelbare Assistentin der Inspektionsleiterin war — eine ungewöhnliche Stellung für eine so junge Person. »Ich habe dieses Lied seit meiner Kindheit nicht mehr gehört.«
Seivarden blinzelte verständnislos. Hätte sie es verstanden, hätte sie vermutlich gelächelt. Eine Radchaai konnte fast zweihundert Jahre alt werden. Diese Inspektionsgehilfin, die wahrscheinlich seit einem Jahrzehnt gesetzlich erwachsen war, war dennoch unvorstellbar jung.
»Ich kannte eine andere Person, die die ganze Zeit sang«, fuhr die Gehilfin fort.
Ich kannte sie. Hatte wahrscheinlich Lieder von ihr gekauft. Sie musste vier oder fünf Jahre alt gewesen sein, als ich Ors verlassen hatte. Vielleicht ein wenig älter, wenn sie sich halbwegs deutlich an mich erinnerte.
Die Inspektionsleiterin hinter jener Tür musste eine Person sein, die auf Shis’urna gelebt hatte, höchstwahrscheinlich sogar in Ors. Was wusste ich über die Leutnantin, die dort Leutnantin Awns Stellung als Verwalterin übernommen hatte? Wie wahrscheinlich war es, dass sie ihre militärische Stellung aufgegeben hatte und Dockinspektorin geworden war? So etwas hatte es durchaus schon gegeben.
Wer auch immer die Inspektionsleiterin war, sie hatte genügend Geld und Einfluss, um diese Gehilfin von Ors hierherzubringen. Ich wollte die junge Frau nach dem Namen ihrer Patronin fragen, aber das wäre äußerst unhöflich gewesen. »Ich habe gehört«, sagte ich in beiläufig neugierigem Tonfall, in den ich nur ein klein wenig meinen Gerentate-Akzent einfließen ließ, »dass die Edelsteine, die von Radchaai getragen werden, irgendeine Bedeutung haben.«
Seivarden warf mir einen verdutzten Blick zu. Die Gehilfin lächelte nur. »Einige davon.« Nachdem ich ihn identifiziert hatte, war ihr orsianischer Akzent völlig eindeutig. »Dieser hier zum Beispiel.« Sie schob einen behandschuhten Finger unter einen goldfarbenen Anhänger, der an ihrer linken Schulter festgesteckt war. »Das ist ein Gedenkabzeichen.«
»Darf ich es mir genauer ansehen?«, fragte ich. Als ich die Erlaubnis erhielt, rückte ich mit meinem Stuhl näher heran und beugte mich vor, um den Namen lesen zu können, der auf Radchaai in das glatte Metall graviert war, einer, den ich nicht kannte. Wahrscheinlich handelte es sich gar nicht um eine Orsai — ich konnte mir keine Person aus der Unterstadt vorstellen, die eine Bestattungszeremonie nach Art der Radchaai abhielt, oder zumindest keine Person, die alt genug war, um gestorben zu sein, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte.
Nicht weit vom Anhänger steckte an ihrem Kragen eine kleine Blumennadel. Jedes Blütenblatt war mit dem Symbol einer Emanation emailliert, und in der Mitte der Blüte war ein Datum eingraviert. Damit stand fest, dass diese junge Frau die kleine, verängstigte Blumenträgerin gewesen war, als Anaander Mianaai vor zwanzig Jahren im Haus von Leutnantin Awn als Priesterin fungiert hatte.
Es gab keine Zufälle, nicht für Radchaai. Ich war mir jetzt ziemlich sicher, dass ich Leutnantin Awns Nachfolgerin in Ors begegnen würde, wenn man uns ins Büro der Inspektionsleiterin einlassen würde. Die Inspektionsgehilfin war vielleicht eine ihrer Klientinnen.
»Sie werden für Bestattungen angefertigt«, sagte die Gehilfin, die in Gedanken immer noch bei den Gedenknadeln war. »Verwandte und enge Freundinnen tragen sie.« Und am Stil und der Ausführung des Stücks erkannte man, welche Stellung die verstorbene Person in der Radchaai-Gesellschaft gehabt hatte, und indirekt auch die Stellung der Trägerin. Aber die Gehilfin — ich wusste, dass ihr Name Daos Ceit war — erwähnte das nicht.
Dann fragte ich mich, was Seivarden von den Veränderungen der Mode seit Garsedd hielt — oder gehalten hatte —, wie sich die Gebräuche und Zeichen geändert hatten — oder auch nicht. Die Leute trugen immer noch solche vererbten Abzeichen und Gedenknadeln, die von ihren sozialen Verbindungen und dem Rang ihrer Vorfahren über mehrere Generationen kündeten. Größtenteils war das so geblieben, nur dass die »mehreren Generationen« bis Garsedd zurückreichten. Einige Abzeichen, die damals unbedeutend gewesen waren, waren jetzt von hohem Wert, und bei anderen war es umgekehrt. Und die Bedeutungen der Farben und Edelsteine, die in den letzten hundert Jahren oder so in Mode gewesen waren, konnten für Seivarden gar keinen Sinn mehr ergeben.
Die Inspektionsgehilfin Ceit hatte drei enge Freundinnen, von denen alle drei ähnliche Gehaltsstufen und Positionen hatten wie sie, wenn ich nach den Geschenken ging, die sie mit ihr ausgetauscht hatten. Zwei Beziehungen, die intim genug waren, um Abzeichen auszutauschen, aber nicht so intim, dass man sie als ausgesprochen ernsthaft betrachten konnte. Keine Edelsteinketten, keine Armreifen — obwohl diese Dinge sie vielleicht auch nur behinderten, wenn sie tatsächlich mit der Arbeit betraut wurde, Fracht oder Schiffssysteme zu inspizieren — und keine Ringe an ihren Handschuhen.
Und dort, an der anderen Schulter, wo ich es jetzt deutlich sehen und betrachten konnte, ohne dass es allzu unhöflich wirkte, war das Abzeichen, nach dem ich gesucht hatte. Ich hatte es mit etwas anderem verwechselt, das weniger beeindruckend war, hatte auf den ersten Blick das Platin für Silber gehalten und die Perle für Glas, das Zeichen eines Geschwistergeschenks. Die aktuelle Mode hatte mich in die Irre geführt. Dieses Stück war keineswegs billig, keineswegs unbedeutend. Aber es war auch kein Abzeichen einer Klientinnenschaft, obwohl das Metall und die Perle auf eine Beziehung zu einem besonderen Haus hinwies. Eine Beziehung zu einem Haus, das so alt war, dass Seivarden es sofort hätte erkennen können. Es vielleicht sogar erkannt hatte.
Die Inspektionsgehilfin stand auf. »Die Inspektionsleiterin hat jetzt Zeit für Sie«, sagte sie. »Ich entschuldige mich für die lange Wartezeit.« Sie öffnete die innere Tür und gab uns mit einer Geste zu verstehen, dass wir eintreten sollten.
Im inneren Büro stand, nun zwanzig Jahre älter und ein wenig schwerer als bei unserer letzten Begegnung, die Person, die jene Nadel geschenkt hatte — Leutnantin, nein, Inspektionsleiterin Skaaiat Awer.
18
Es war unmöglich, dass Leutnantin Skaaiat mich wiedererkannte. Sie verbeugte sich zum Gruß, ohne dass ihr bewusst wurde, dass ich sie kannte. Es war seltsam, sie in Dunkelblau zu sehen, so viel nüchterner, so viel ernster als zu der Zeit, die ich mit ihr in Ors verbracht hatte.
Die Inspektionsleiterin einer Station, in der es so geschäftig zuging wie in dieser, setzte wahrscheinlich niemals einen Fuß in die Schiffe, die ihre Untergebenen inspizierten, aber Inspektionsleiterin Skaaiat trug fast genauso wenig Schmuck wie ihre Assistentin. Eine lange Kette aus grünen und blauen Juwelen wand sich von einer Schulter zur gegenüberliegenden Hüfte, und an einem Ohr hing ein roter Stein, doch ansonsten wurde ihre Uniformjacke von einer ähnlichen (wenn auch kostspieligeren) Ansammlung von Freundinnen, Geliebten und verstorbenen Verwandten geziert. Ein schlichtes Abzeichen in Gold hing von der Manschette ihres rechten Ärmels, unmittelbar neben dem Ansatz des Handschuhs. Diese Platzierung konnte nur bedeuten, dass es sich um etwas handelte, woran sie erinnert werden wollte — sie selbst, aber auch alle anderen. Es sah billig, maschinell gefertigt aus. Nichts, was sie normalerweise tragen würde.
Sie verbeugte sich. »Bürgerin Seivarden. Geehrte Breq. Bitte setzen Sie sich. Nehmen Sie Tee?« Immer noch mühelos elegant, selbst nach über zwanzig Jahren.