Seivarden verzog das Gesicht. »Nein, danke. Sie sind abenteuerlustiger als ich.«
»Wahrscheinlich«, stimmte ich ihr freundlich zu. Ich beendete mein Abendessen, trank meinen Tee aus. »Aber Sie würden es niemals vermuten, wenn Sie mich nur heute beobachtet hätten. Ich habe den Vormittag im Tempel verbracht, wie eine gute Touristin. Und am Nachmittag habe ich mir in meinem Zimmer ein Unterhaltungsprogramm angesehen.«
»Lassen Sie mich raten!« Seivarden hob süffisant eine Augenbraue. »Das, von dem alle reden. Die Heldin ist tugendhaft und loyal, und die Geliebte ihrer potenziellen Patronin hasst sie. Am Ende siegt sie aufgrund ihrer unerschütterlichen Loyalität und Hingabe.«
»Sie haben es auch gesehen.«
»Mehr als nur einmal. Aber schon seit sehr langer Zeit nicht mehr.«
Ich lächelte. »Manche Dinge ändern sich nie?«
Seivarden lachte. »Anscheinend. Waren die Lieder halbwegs gut?«
»Ziemlich gut. Sie können es sich in der Unterkunft ansehen, wenn Sie möchten.«
Doch im Zimmer klappte sie die Dienerinnenpritsche herunter und sagte: »Ich will mich nur für einen Moment setzen.« Zwei Minuten und drei Sekunden später war sie eingeschlafen.
20
Mit großer Wahrscheinlichkeit würde es Wochen dauern, bis Seivarden auch nur einen Termin für ihre Audienz bekam. In der Zwischenzeit lebten wir hier, und ich würde die Gelegenheit erhalten, mir einen Eindruck vom Stand der Dinge zu verschaffen — wer sich auf Mianaais Seite schlagen würde, wenn es zu einem offenen Bruch kam. Vielleicht konnte ich sogar herausfinden, welche der Mianaais hier die Oberhand hatte. Jede Information konnte sich als entscheidend erweisen, wenn der Moment gekommen war. Und er würde kommen, dessen war ich mir immer sicherer. Ganz gleich, ob Anaander Mianaai früher oder später erkannte, was ich war, oder nicht, zum jetzigen Zeitpunkt konnte ich mich nicht mehr vor ihren anderen Versionen verbergen. Ich war hier, völlig offen, für jede sichtbar, gemeinsam mit Seivarden.
Wenn ich an Seivarden und an Kapitänin Vel Oscks Bestreben dachte, sie zu treffen, dachte ich gleichzeitig an Hundert-Kapitänin Rubran Osck. An Anaander Mianaai, die sich beklagte, dass sie ihre Überzeugung nicht einschätzen konnte, dass sie sich weder ihres Widerstandes noch ihrer Unterstützung sicher sein konnte, dass sie sie auch nicht unter Druck setzen konnte, um es in Erfahrung zu bringen. Kapitänin Rubran hatte sich dank ihrer Familienbande eine solche neutrale Haltung erlauben können. Verriet das etwas über den Stand von Mianaais Konflikt mit sich selbst zu jenem Zeitpunkt?
Nahm die Kapitänin der Gnade der Kalr den gleichen neutralen Standpunkt ein? Oder hatte sich etwas in dieser Balance verändert, während ich fort gewesen war? Und was bedeutete es, dass Inspektionsleiterin Skaaiat sie nicht mochte? Ich war mir sicher, dass es Abneigung war, was ich auf ihrem Gesicht gesehen hatte, als ich den Namen erwähnt hatte. Die Dockverwaltung war nicht für Militärschiffe zuständig — außer wenn es um Ankunft und Abflug ging, verstand sich —, und in der Beziehung zwischen beiden spielte immer auch eine gewisse Verachtung auf der einen Seite und leichte Missgunst auf der anderen eine Rolle, alles überdeckt von zurückhaltender Höflichkeit. Doch Skaaiat Awer hatte nie zu Missgunst geneigt, und es kam hinzu, dass sie beide Seiten des Spiels kannte. Hatte Kapitänin Vel sie persönlich beleidigt? Oder war es gewöhnliche Antipathie, wie sie gelegentlich vorkam?
Oder stand sie aufgrund ihrer Sympathien auf der anderen Seite irgendeiner politischen Trennlinie? Und wo würde Skaaiat Awer schließlich landen, wenn es zur Spaltung der Radch kam? Sofern nicht irgendetwas geschehen war, das ihre Persönlichkeit und ihre Ansichten drastisch verändert hatte, glaubte ich zu wissen, wie sich Skaaiat Awer dann entscheiden würde. Kapitänin Vel — und genauso die Gnade der Kalr — kannte ich nicht gut genug, um dazu etwas sagen zu können.
Was Seivarden betraf, machte ich mir keine Illusionen, wo ihre Sympathien liegen würden, wenn sie vor der Wahl zwischen Bürgerinnen stand, die ihre angemessene Stellung in einer expandierenden, nach Eroberung strebenden Radch beibehielten, oder keinen weiteren Annexionen und der Beförderung von Bürgerinnen mit dem falschen Akzent und den falschen Vorfahrinnen. Ich machte mir keine Illusionen, welche Meinung Seivarden von Leutnantin Awn gehabt hätte, wären sie sich jemals begegnet.
Der Laden, in dem Kapitänin Vel Tee zu trinken pflegte, wurde nicht auffällig beworben. Das hatte er auch gar nicht nötig. Es gab vermutlich exklusivere Orte — es sei denn, das Vermögen von Osck war in den letzten zwanzig Jahren in ungeahnte Höhen gestiegen. Aber es war trotzdem einer jener Läden, wo man eher nicht willkommen war, wenn man ihn nicht bereits kannte. Drinnen war es düster, und es klang dumpf — Teppiche und Wandbehänge schluckten Echos oder ungewollte Geräusche. Als ich aus dem lärmenden Korridor hineintrat, war es, als hätte ich mir plötzlich die Hände auf die Ohren gelegt. Gruppen aus niedrigen Stühlen umgaben kleine Tische. Kapitänin Vel saß in einer Ecke, vor ihr Kannen und Teetassen und ein halb leeres Tablett mit Gebäck auf dem Tisch. Alle Stühle waren besetzt, und man hatte einen äußeren Kreis dazugestellt.
Sie waren schon seit mindestens einer Stunde hier. Bevor wir das Zimmer verlassen hatten, hatte Seivarden höflich, aber immer noch gereizt zu mir gesagt, dass ich natürlich nicht hetzen sollte, wenn ich zum Tee eingeladen war. Wäre sie bei besserer Laune gewesen, hätte sie mir unverblümt gesagt, dass ich zu spät kommen sollte. Schon bevor sie etwas gesagt hatte, war mir der gleiche Gedanke gekommen, also ließ ich sie in dem Glauben, mich beeinflusst zu haben, sofern ihr diese Genugtuung wichtig war.
Kapitänin Vel sah mich, stand auf und verbeugte sich. »Ah, Breq Ghaiad. Oder heißt es Ghaiad Breq?«
Ich antwortete mit einer ähnlichen Verbeugung, wobei ich darauf achtete, sie genauso knapp zu halten wie ihre. »In der Gerentate stellen wir unsere Hausnamen voran.« Die Gerentate hatte keine Häuser, wie es sie in der Radch gab, aber es war der einzige Begriff, den die Radchaai für familiäre Netzwerke hatten. »Doch ich befinde mich zur Zeit nicht in der Gerentate. Ghaiad ist mein Hausname.«
»Dann haben Sie ihn für uns bereits in die richtige Reihenfolge gebracht«!, sagte Kapitänin Vel mit falscher Jovialität. »Sehr rücksichtsvoll.« Ich konnte Seivarden nicht sehen, die hinter mir stand. Ich fragte mich kurz, welchen Gesichtsausdruck sie zeigte und warum Kapitänin Vel mich hierher eingeladen hatte, wenn ihre Interaktion mit mir immer wieder auf leichte Beleidigungen hinauslief.
Zweifellos wurde ich von der Station beobachtet. Sie würde zumindest Spuren meiner Verärgerung bemerken. Aber nicht Kapitänin Vel. Und wahrscheinlich hätte es sie auch gar nicht interessiert, wenn sie es hätte sehen können.
»Und Kapitänin Seivarden Vendaai«, fuhr Kapitänin Vel fort und verbeugte sich erneut, diesmal jedoch merklich tiefer als beim ersten Mal. »Es ist mir eine Ehre. Eine ausgesprochene Ehre. Setzen Sie sich doch!« Sie deutete auf die Stühle neben ihren, worauf sich zwei elegant gekleidete und mit Edelsteinen geschmückte Radchaai erhoben, um Platz für uns zu machen, ohne sich zu beklagen oder mit sichtbarer Verstimmung zu reagieren.
»Mit Verlaub, Kapitänin«, sagte Seivarden. Höflich. Die am Vortag angebrachten Korrektiva waren abgefallen, und sie sah wieder fast genauso wie vor tausend Jahren aus, die wohlhabende und arrogante Tochter eines hochstehenden Hauses. Ich war mir sicher, dass sie im nächsten Moment verächtlich lächeln und etwas Sarkastisches sagen würde, aber sie tat es nicht. »Ich bin dieses Ranges nicht mehr würdig. Ich bin die Dienerin der geehrten Breq.« Mit leichter Betonung auf geehrt, als wäre Kapitänin Vel der angemessene Höflichkeitstitel vielleicht nicht bekannt und als wollte Seivarden lediglich nett zu ihr sein und sie diskret darüber informieren. »Und ich danke Ihnen für die Einladung, die sie freundlicherweise an mich weitergeleitet hat.« Da war es, eine Andeutung von Verachtung, auch wenn es durchaus möglich war, dass nur eine Person, die sie gut kannte, sie bemerken würde. »Aber ich habe Pflichten, denen ich nachkommen muss.«