»Ich habe Ihnen für den Nachmittag freigegeben, Bürgerin«, sagte ich, bevor Kapitänin Vel antworten konnte. »Verbringen Sie ihn, wie Sie möchten.« Keine Reaktion von Seivarden, und ich konnte ihr Gesicht immer noch nicht sehen. Ich setzte mich auf einen der Plätze, die man für uns geräumt hatte. Vorher hatte dort eine Leutnantin gesessen, zweifellos eine von Kapitänin Vels Offizierinnen. Obwohl ich hier mehr braune Uniformen sah, als es an Bord eines kleinen Schiffs wie der Gnade der Kalr geben konnte.
Die Person neben mir war eine Zivilistin in Rosa und Azurblau, mit feinen Satinhandschuhen, die andeuteten, dass sie niemals rauere oder schwerere Dinge anfasste als eine Teetasse, und einer protzigen großen Brosche aus geflochtenem und gehämmertem Golddraht, die mit Saphiren besetzt war — und nicht mit Glas, wie ich mir sicher war. Wahrscheinlich tat die Gestaltung kund, zu welchem reichen Haus sie gehörte, aber ich erkannte es nicht. Sie beugte sich zu mir vor und sagte laut, während Seivarden sich mir gegenüber setzte: »Wie glücklich Sie sich schätzen müssen, Seivarden Vendaai gefunden zu haben!«
»Glücklich«, wiederholte ich vorsichtig, als wäre mir das Wort unvertraut, und ließ noch ein wenig stärker meinen Gerentate-Akzent mitschwingen. Fast wünschte ich mir, die Sprache der Radchaai würde mehr Wert auf das Geschlecht legen, damit ich es falsch verwenden konnte und noch fremder klang. Fast. »Ist das der Begriff, mit dem man es bezeichnet?« Ich hatte richtig geraten, warum Kapitänin Vel auf diese Weise an mich herangetreten war. Inspektionsleiterin Skaaiat hatte etwas Ähnliches getan und Seivarden angesprochen, obwohl sie gewusst hatte, dass sie als meine Dienerin in die Station gekommen war. Natürlich hatte die Inspektionsleiterin ihren Fehler fast sofort erkannt.
Auf der anderen Seite des Tisches erklärte Seivarden Kapitänin Vel, wie es um ihre Eignungsprüfung stand. Ich war erstaunt über ihre eiskalte Ruhe, wenn ich bedachte, wie verärgert sie gewesen war, seit ich ihr von meiner Absicht erzählt hatte, an diesem Treffen teilzunehmen. Aber dies war in gewisser Weise ihr natürliches Habitat. Wenn das Schiff, das ihre Suspensionskapsel gefunden hatte, sie an einen Ort wie diesen gebracht hätte und nicht in eine kleine provinzielle Station, hätten sich die Dinge für sie ganz anders entwickelt.
»Lächerlich!«, rief Rosa-und-Azurblau neben mir, während Kapitänin Vel eine Tasse Tee einschenkte und sie Seivarden anbot. »Als wären Sie ein Kind. Als wüsste niemand, wozu Sie geeignet sind. Früher konnte man sich darauf verlassen, dass Beamtinnen solche Angelegenheiten mit Anstand regeln.« Gerecht, schwang beim vorletzten Wort mit. Nützlich.
»Ich habe mein Schiff verloren, Bürgerin«, sagte Seivarden.
»Nicht durch Ihre Schuld, Kapitänin«, protestierte eine andere Zivilistin irgendwo hinter mir. »Auf gar keinen Fall.«
»Alles, was während meiner Wache geschieht, ist meine Schuld, Bürgerin«, erwiderte Seivarden.
Kapitänin Vel gestikulierte Zustimmung. »Trotzdem hätte es keine Frage sein sollen, ob Sie sich erneut den Prüfungen unterziehen.«
Seivarden blickte auf ihren Tee, sah zu mir herüber, die ich mit leeren Händen dasaß, und stellte ihre Tasse auf den Tisch, ohne davon getrunken zu haben. Kapitänin Vel schenkte eine Tasse ein und bot sie mir an, als hätte sie Seivardens Geste nicht bemerkt.
»Wie finden Sie die Radch nach tausend Jahren, Kapitänin?«, fragte jemand hinter mir, als ich den Tee annahm. »Sehr verändert?«
Seivarden hob ihre eigene Tasse nicht wieder auf. »Zum Teil verändert, zum Teil gleich geblieben.«
»Zum Besseren oder zum Schlechteren?«
»Schwer zu sagen«, antwortete Seivarden gelassen.
»Wie schön Sie sprechen, Kapitänin Seivarden«, sagte eine andere Person. »Heutzutage achten so viele junge Leute überhaupt nicht mehr auf ihre Sprache. Es ist nett, eine Person zu hören, die mit wahrer Vornehmheit spricht.«
Seivardens Lippen verzogen sich auf eine Weise, die man als Dank für ein Kompliment verstehen könnte, was es aber mit Sicherheit nicht war.
»Diese niederen Häuser und Leute aus der Provinz mit ihren Akzenten und Slangs«, stimmte Kapitänin Vel zu. »Wirklich, mein eigenes Schiff, gute Soldatinnen, aber wenn man sie reden hört, könnte man glauben, sie wären nie zur Schule gegangen.«
»Pure Bequemlichkeit«, bekräftigte eine Leutnantin hinter Seivarden.
»So etwas gibt es bei Hilfseinheiten nicht«, sagte jemand hinter mir, wahrscheinlich eine andere Kapitänin.
»Vieles gibt es bei Hilfseinheiten nicht«, sagte wieder eine andere Person. Der Kommentar war auf zweideutige Weise zu verstehen, doch ich war mir ziemlich sicher, dass ich wusste, wie er gemeint war. »Aber das ist kein sicheres Gesprächsthema.«
»Kein sicheres?«, fragte ich unschuldig. »Es ist doch bestimmt nicht verboten, sich über junge Leute zu beklagen! Wie grausam. Ich dachte, das gehört zur menschlichen Natur, eine der wenigen menschlichen Gepflogenheiten, die universell praktiziert werden.«
»Und bestimmt«, fügte Seivarden mit leicht verächtlicher Miene hinzu, als ihre Maske endlich Risse bekam, »ist es immer sicher, sich über niedere Häuser und Leute aus der Provinz zu beklagen.«
»Das sollte man meinen«, sagte Rosa-und-Azurblau neben mir und missverstand Seivardens Intention. »Aber seit Ihren Tagen haben wir uns auf traurige Weise geändert, Kapitänin. Früher konnte man sich darauf verlassen, dass bei den Eignungsprüfungen die richtigen Bürgerinnen zu den richtigen Posten kamen. Einige der Entscheidungen, die heute getroffen werden, kann ich nicht mehr nachvollziehen. Und Atheisten werden Privilegien gewährt.« Sie meinte die Valskaayaner, die im Allgemeinen keine Atheisten, sondern exklusive Monotheisten waren. Viele Radchaai waren außerstande, diesen Unterschied zu sehen. »Und menschliche Soldatinnen! Heutzutage reagieren viele Leute empfindlich auf Hilfseinheiten, aber man sieht niemals betrunkene Hilfseinheiten, die sich auf der Promenade erbrechen.«
Seivarden machte eine mitfühlende Geste. »Ich habe noch nie erlebt, wie sich Offizierinnen bis zum Erbrechen betrinken.«
»Zu Ihren Zeiten vielleicht nicht«, erwiderte jemand hinter mir. »Es hat sich einiges verändert.«
Rosa-und-Azurblau verneigte den Kopf in Kapitänin Vels Richtung, deren Gesichtsausdruck mir verriet, dass sie Seivardens Worte endlich verstanden hatte, im Gegensatz zu Rosa-und-Azurblau. »Das soll nicht heißen, Kapitänin, dass Sie Ihr Schiff nicht in Ordnung halten. Aber mit Hilfseinheiten müssten Sie gar nichts in Ordnung halten, nicht wahr?«
Kapitänin Vel tat die Bemerkung mit einem Wink der leeren Hand ab, während sie ihre Teetasse in der anderen hielt. »Das ist Führung, Bürgerin, das ist einfach nur meine Aufgabe. Aber es gibt viel ernstere Probleme. Man kann Truppentransporter nicht mit Menschen bestücken. Alle Gerechtigkeiten mit menschlichen Besatzungen sind halb leer.«
»Und natürlich«, warf Rosa-und-Azurblau ein, »müssen sie alle bezahlt werden.«
Kapitänin Vel gestikulierte Zustimmung. »Manche sagen, dass wir sie nicht mehr brauchen.« Wobei mit manche natürlich Anaander Mianaai gemeint war. Niemand würde ihren Namen nennen, wenn sie kritisiert wurde. »Dass unsere Grenzen angemessen sind, so wie sie sind. Ich behaupte nicht, etwas von Strategie oder Politik zu verstehen. Aber mir scheint, dass es weniger verschwenderisch ist, wenn wir Hilfseinheiten einlagern, statt Menschen auszubilden und zu bezahlen und sie turnusmäßig ein- und auszulagern.«