»Manche sagen«, warf Rosa-und-Azurblau neben mir ein, während sie sich ein Stück Gebäck vom Tisch nahm, »wenn die Gerechtigkeit der Torren nicht verschwunden wäre, hätte man inzwischen längst einen der anderen Transporter verschrottet.« Meine Überraschung, als ich meinen Namen hörte, konnte für niemanden hier sichtbar gewesen sein, aber die Station würde es zweifellos bemerken. Und diese Überraschung, dieser leichte Schreck, war etwas, das nicht in die Identität passte, die ich konstruiert hätte. Ich war mir sicher, dass die Station mich nun reevaluierte. Genauso wie Anaander Mianaai.
»Ah«, sagte eine Zivilistin hinter mir. »Aber unsere Besucherin freut es zweifellos zu hören, dass unsere Grenzen festgelegt sind.«
Ich drehte kaum den Kopf, um zu antworten. »Die Gerentate wäre ein ziemlich großer Happen.« Ich sprach mit gleichmäßiger Stimme. Niemand hier konnte sehen, wie sehr ich immer noch über den Schreck vor wenigen Augenblicken bestürzt war.
Außer natürlich der Station und Anaander Mianaai. Und Anaander Mianaai — oder zumindest ein Teil von ihr — würde einem Gespräch über die Gerechtigkeit der Torren und den Reaktionen darauf große Beachtung schenken.
»Ich weiß nicht, Kapitänin Seivarden«, sagte Kapitänin Vel in diesem Moment, »ob Sie schon von der Meuterei bei Ime gehört haben. Eine komplette Einheit verweigerte ihre Befehle und lief zu einer Alien-Streitmacht über.«
»Mit einer Schiffsbesatzung aus Hilfseinheiten wäre das bestimmt nicht passiert«, sagte jemand hinter Seivarden.
»Kein allzu großer Happen für die Radch, würde ich meinen«, sagte die Person hinter mir.
»Ich wage zu behaupten« — wieder ließ ich ein wenig Gerentate-Akzent einfließen —, »dass Sie sich, wenn Sie eine so lange Grenze mit uns teilen, inzwischen etwas bessere Tischsitten angewöhnt haben müssten.« Ich wollte mich nicht ganz umdrehen, um zu sehen, ob das Schweigen, das ich zur Antwort erhielt, amüsiert oder entrüstet war, oder ob sie lediglich durch Seivarden und Kapitänin Vel abgelenkt wurde. Und ich bemühte mich, nicht zu angestrengt darüber nachzudenken, welche Schlussfolgerungen Anaander Mianaai aus meiner Reaktion ziehen würde, als ich meinen Namen gehört hatte.
»Ich glaube, ich habe davon gehört«, sagte Seivarden mit leicht gerunzelter Stirn. »Ime. Das war das System, in dem die Provinzgouverneurin und die Schiffskapitäninnen mordeten und raubten und die Schiffe und die Station sabotierten, damit niemand die Vorfälle melden konnte. Nicht wahr?« Es hatte keinen Sinn, sich Sorgen zu machen, wie die Station — oder die Herrin der Radch — meine Reaktion auf das deutete. Sie würde so ausfallen, wie sie ausfiel. Ich musste ruhig bleiben.
»Das ist nicht der Punkt«, erwiderte Rosa-und-Azurblau. »Der Punkt ist, dass es Meuterei war. Eine Meuterei, über die hinweggesehen wurde, aber man kann keine schlichte Tatsachenbehauptung über die Gefahren der Beförderung von schlecht erzogenen und vulgären Personen auf verantwortliche Posten oder über Reglements vorbringen, die zu niederträchtigem Verhalten animieren und sogar alles unterminieren, wofür die Zivilisation stets gestanden hat, ohne Geschäftskontakte oder Karriereaussichten zu verlieren.«
»Dann scheint es sehr mutig von Ihnen zu sein, so etwas auszusprechen«, stellte ich fest. Aber ich war mir sicher, dass Rosa-und-Azurblau gar nicht ausgesprochen mutig war. Sie konnte so sprechen, weil sie sich damit nicht in Gefahr brachte.
Ruhig bleiben. Ich konnte meine Atmung beherrschen, sie flach und gleichmäßig halten. Meine Haut war zu dunkel, um irgendeine Rötung zu zeigen, aber die Station würde die Temperaturveränderung bemerken. Vielleicht dachte sie nur, dass ich mich über irgendetwas ärgerte. Ich hatte gute Gründe, mich zu ärgern.
»Geehrte«, sagte Seivarden unvermittelt. An der Haltung ihres Unterkiefers und ihrer Schultern sah ich, dass sie den Drang unterdrückte, die Arme zu verschränken. Dass sie schon bald wieder in der Stimmung sein würde, wo sie nur noch stumm die Wand anstarren würde. »Wir werden zu spät zu unserer nächsten Verabredung kommen.« Sie erhob sich, etwas abrupter, als es die Höflichkeit geboten hätte.
»In der Tat«, pflichtete ich ihr bei und stellte meine noch volle Teetasse zurück. Und hoffte, dass sie aus eigenem Antrieb in Aktion getreten war, und nicht, weil sie Anzeichen für meine Beunruhigung gesehen hatte. »Kapitänin Vel, vielen Dank für Ihre freundliche Einladung. Es war eine Ehre, Sie alle kennengelernt zu haben.«
Draußen auf der Hauptpromenade lief Seivarden neben mir und murmelte: »Verdammte Wichtigtuerinnen.« Leute passierten uns, von denen die meisten uns überhaupt nicht beachteten. Das war gut. Das war normal. Ich spürte, wie mein Adrenalinpegel sank.
Schon besser. Ich blieb stehen, wandte mich Seivarden zu und hob eine Augenbraue.
»Aber sie sind Wichtigtuerinnen«, sagte sie. »Was glauben die, wofür Eignungsprüfungen da sind? Der Sinn des Ganzen ist doch, dass jede sich für alles prüfen lassen kann.«
Ich erinnerte mich an die zwanzig Jahre jüngere Leutnantin Skaaiat, die in der feuchten Dunkelheit der Oberstadt fragte, ob es den Eignungsprüfungen schon zuvor an Unvoreingenommenheit gemangelt hatte oder ob das erst jetzt der Fall war. Und wie sie für sich selbst geantwortet hatte, dass beides der Fall war. Und an den Schmerz und die Bestürzung von Leutnantin Awn.
Seivarden verschränkte die Arme, löste sie wieder, ballte die Hände in den Handschuhen zu Fäusten. »Und natürlich muss jemand aus einem niederen Haus schlecht erzogen sein und einen vulgären Akzent haben. Wie könnte es auch anders sein?«
Seivarden war noch nicht fertig. »Und was haben sie sich dabei gedacht, ein solches Gespräch zu führen? In einem Teeladen! In einer Palaststation! Ich meine nicht nur ›als wir noch jung waren‹ und ›Leute aus der Provinz sind vulgär‹, sondern auch noch korrupte Eignungsprüfungen? Das Militär wird schlecht verwaltet?« Ich sagte nichts dazu, aber sie antwortete, als hätte ich es getan. »Ja, natürlich, jede beklagt sich darüber, dass Dinge schlecht laufen. Aber doch nicht so! Was ist hier los?«
»Mich dürfen Sie nicht fragen.« Obwohl ich es natürlich wusste — oder zu wissen glaubte. Und ich fragte mich erneut, warum diese Rosa-und-Azurblau und die anderen so freiheraus ihre Meinung gesagt hatten. Welche Anaander Mianaai mochte hier vorherrschen? Auch wenn diese Art von freier Meinungsäußerung vielleicht nur bedeutete, dass es der Herrin der Radch lieber war, wenn ihre Feindinnen sich offen und unzweideutig zu erkennen gaben. »Und waren Sie schon immer dafür, dass Personen aus schlechtem Haus für höhere Posten getestet werden sollen?«, fragte ich, obwohl ich wusste, dass sie es nicht gewesen war.
Und plötzlich wurde mir bewusst, dass die Station vielleicht niemals einer Person von der Gerentate begegnet war, aber Anaander Mianaai sehr wohl. Warum hatte ich nicht vorher daran gedacht? Etwas, das in mein Schiffsbewusstsein einprogrammiert worden war, bis zu diesem Moment unsichtbar für mich, oder einfach nur die Einschränkungen dieses einen kleinen Gehirns, das mir geblieben war?
Ich konnte vielleicht die Station und jede andere hier täuschen, aber die Herrin der Radch konnte ich keinen Augenblick lang täuschen. Mit Sicherheit hatte sie seit dem Moment, als ich die Palastdocks betreten hatte, genau gewusst, dass ich nicht das war, wofür ich mich ausgab.
Es würde so geschehen, wie es eben geschah, sagte ich mir.
»Ich habe über das nachgedacht, was Sie mir über Ime erzählt haben«, sagte Seivarden, als wäre es eine Antwort auf meine Frage. Ohne etwas von meiner neuen Beunruhigung zu bemerken. »Ich weiß nicht, ob die Anführerin dieser Einheit das Richtige getan hat. Aber ich weiß auch nicht, was das Richtige gewesen wäre. Und ich weiß nicht, ob ich den Mut gehabt hätte, für das Richtige zu sterben, selbst wenn ich gewusst hätte, was es ist. Ich meine …« Sie hielt inne. »Ich meine, ich stelle mir gern vor, ich hätte ihn gehabt. Es gab eine Zeit, in der ich mir dessen ganz sicher gewesen wäre. Aber ich kann nicht einmal …« Sie verstummte mit leicht zitternder Stimme. Sie schien den Tränen nah zu sein, wie die Seivarden von vor einem Jahr, als fast alle Gefühle zu viel für sie gewesen waren. Diese ausdauernde Höflichkeit im Teeladen musste das Ergebnis einer beträchtlichen Anstrengung gewesen sein.