»Wo ist meine Kapitänin?«, fragte die Gnade der Kalr. Für mich war es recht vielsagend, dass das Schiff so lange mit dieser Frage gewartet hatte.
»Es ging ihr gut, als ich sie zuletzt sah. Auch ihrer Leutnantin.« Wieder ein Schuss. »Allerdings habe ich die Shuttlepilotin verletzt, weil sie mich nicht von Bord der Station gehen lassen wollte. Ich hoffe, sie ist auf dem Weg der Besserung. Gnade der Kalr, ganz gleich, welche Herrin der Radch von Ihnen unterstützt wird, ich bitte Sie, keine an Bord zu lassen und von keiner Befehle anzunehmen.«
Der Beschuss hörte auf. Vielleicht machte sich die Herrin der Radch Sorgen, dass sich ihre Waffe überhitzen könnte. Aber sie hatte immer noch genug Zeit, kein Grund zur Eile.
»Ich verstehe, was die Herrin der Radch mit dem Shuttle macht«, sagte die Gnade der Kalr. »Allein das ist für mich ein klares Anzeichen, dass irgendetwas nicht stimmt.«
Natürlich hatte die Gnade der Kalr viel mehr Anzeichen bemerkt als nur dieses. Die Kommunikationssperre, die an das erinnerte, was vor zwanzig Jahren auf Shis’urna geschehen war. Vermutlich hatte sie nur in Form von Gerüchten davon gehört, aber es war trotzdem ernüchternd, wenn man davon ausging, dass die Gerüchte so weit vorgedrungen waren. Mein Verschwinden — das der Gerechtigkeit der Torren. Dass die Herrin der Radch auch sie heimlich besucht hatte. Die politischen Ansichten ihrer Kapitänin.
Schweigen. Die vier Anaander Mianaais hielten sich weiter reglos am Shuttlerumpf fest.
»Sie hatten immer noch Ihre Hilfseinheiten«, sagte die Gnade der Kalr.
»Ja.«
»Ich mag meine Soldatinnen, aber mir fehlen meine Hilfseinheiten.«
Das erinnerte mich an etwas. »Sie sind bei den Wartungsarbeiten nicht besonders gründlich. Die Bolzen in der Luftschleusentür waren stark verschmutzt.«
»Das tut mir leid.«
»Im Moment spielt es keine Rolle«, sagte ich, und mir kam in den Sinn, dass ein ähnliches Problem Anaander Mianaais Versuche behindert haben möchte, die Schleusentür auf der Außenseite zu öffnen. »Aber Sie sollten Ihren Offizierinnen sagen, dass Sie der Sache nachgehen müssen.«
Anaander eröffnete wieder das Feuer. »Schon seltsam«, sagte die Gnade der Kalr. »Sie sind, was ich verloren habe, und ich bin, was Sie verloren haben.«
»So scheint es.« Wieder ein Schuss. Während der vergangenen zwanzig Jahre hatte es gelegentlich Augenblicke gegeben, in denen ich mich nicht so völlig einsam, verloren und hilflos gefühlt hatte wie seit dem Moment, als die Gerechtigkeit der Torren hinter mir atomisiert worden war. Dies war kein solcher Augenblick.
»Ich kann Ihnen nicht helfen«, sagte die Gnade der Kalr. »Alles, was ich schicken könnte, würde nicht rechtzeitig eintreffen.« Außerdem war für mich noch lange nicht entschieden, ob die Gnade der Kalr am Ende mir oder der Herrin der Radch helfen würde. Es war besser, Anaander nicht in dieses Shuttle, in die Nähe der Steuerung oder auch nur der Kommunikationssysteme zu lassen.
»Ich weiß.« Wenn ich nicht sehr bald eine Möglichkeit fand, diese Anaanders zu beseitigen, würden alle sterben, die sich in der Palaststation aufhielten. Ich kannte jeden Millimeter dieses Shuttles, dieses Modells. Es musste etwas geben, das ich benutzen konnte, etwas, das ich tun konnte. Ich hatte immer noch die Waffe, aber es würde für mich genauso schwer sein, durch den Rumpf zu kommen, wie für die Herrin der Radch. Ich konnte die Tür wieder montieren und sie durch die kleine, leicht zu verteidigende Luftschleuse hereinkommen lassen, aber wenn es mir nicht gelang, sie alle zu töten … Andererseits würde ich auf jeden Fall scheitern, wenn ich gar nichts tat. Ich zog die Waffe aus meiner Jackentasche, überzeugte mich, dass sie geladen war, und verankerte mich an einem Passagiersitz genau gegenüber der Luftschleuse. Fuhr meine Rüstung aus, obwohl mir das nicht helfen würde, wenn ich von einem Querschläger getroffen wurde, nicht bei dieser Waffe.
»Was wollen Sie tun?«, fragte die Gnade der Kalr.
»Gnade der Kalr«, sagte ich und hob die Waffe, »es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen. Lassen Sie nicht zu, dass Anaander Mianaai den Palast vernichtet. Sagen Sie das allen anderen Schiffen. Und sagen Sie bitte dieser unglaublich dummen und hartnäckigen Segelkapselpilotin, dass sie sich unbedingt von meiner Luftschleuse fernhalten soll.«
Das Shuttle war nicht nur zu klein für einen Schwerkraftgenerator, sondern auch für Pflanzen, die Sauerstoff erzeugten. Zwischen Luftschleuse und Heck hinter einer Wand befand sich ein großer Sauerstofftank. Genau unter der Stelle, wo drei der Mianaais warteten. Ich berechnete die Winkel. Die Herrin der Radch feuerte wieder. An der Konsole blinkte ein rotes Licht, und ein schrilles Alarmsignal ertönte. Ein Leck. Als die vierte Herrin der Radch sah, wie ein dünner Strahl aus Eiskristallen durch das Loch im Rumpf strömte, löste sie die Sicherungsleine, drehte sich um und zog sich zur Luftschleuse zurück. Ich konnte es auf dem Display sehen. Sie bewegte sich langsamer, als mir lieb war, aber sie hatte alle Zeit der Welt. Nur ich hatte es eilig. Die Segelkapsel aktivierte ihr kleines Triebwerk und entfernte sich.
Ich schoss mit der Waffe auf den Sauerstofftank.
Ich hatte gedacht, ich würde mehrmals schießen müssen, aber schon im nächsten Augenblick wurde die Welt durcheinandergeworfen. Alle Geräusch verstummten, eine Wolke aus gefrorenem Dampf bildete sich um mich herum, zerstreute sich dann, und alles drehte sich. Meine Zunge kribbelte, als der Speichel im Vakuum kochte, und ich konnte nicht mehr atmen. Wahrscheinlich blieben mir zehn, vielleicht fünfzehn Sekunden, bis ich das Bewusstsein verlor, und in zwei Minuten würde ich tot sein. Mir tat alles weh — eine Verbrennung? Irgendeine andere Verletzung, trotz meiner Rüstung? Es war egal. Ich beobachtete, während ich herumgewirbelt wurde, und zählte die Herrinnen der Radch. Eine mit einem Riss im Vakuumanzug, durch den kochendes Blut nach draußen schoss. Eine weitere mit abgetrenntem Arm, zweifellos tot. Das waren zwei.
Und eine halbe. Ich zählte sie als ganze, und damit waren es drei. Noch eine übrig. Mein Sichtfeld wurde rot und schwarz, aber ich konnte erkennen, dass sie sich immer noch am Rumpf des Shuttles festhielt, mit intakter Rüstung, vor dem explodierten Tank geschützt.
Aber ich war schon immer in erster Linie eine Waffe gewesen. Eine Maschine, zum Töten gemacht. Sobald ich diese noch lebende Anaander Mianaai sah, zielte ich mit der Waffe auf sie, ohne bewusst darüber nachzudenken, und feuerte. Ich konnte das Ergebnis des Schusses nicht sehen, konnte gar nichts sehen außer einem silbrigen Aufblitzen der Segelkapsel und danach nur noch Schwarz, bis ich das Bewusstsein verlor.
23
Etwas Raues wand sich durch meine Kehle hoch, ich würgte und keuchte krampfartig. Jemand hielt mich an den Schultern fest, die Schwerkraft zog mich nach vorn. Ich öffnete die Augen, sah die Oberfläche eines Krankenhausbetts und einen flachen Behälter, der voller schwarz-grüner Ranken war, die in Galleflüssigkeit getaucht pulsierten und zitterten und mit meinem Mund verbunden waren. Weiteres Würgen zwang mich, die Augen zu schließen, bis sich das Ganze mit einem hörbaren Platschen befreite und in den Behälter fiel. Jemand wischte mir den Mund ab, drehte mich um und legte mich hin. Immer noch keuchend öffnete ich die Augen.