Trudi Canavan
Die Gilde der Schwarzen Magier:
Die Meisterin
Dies Buch sei meinen Freunden
Yvonne und Paul gewidmet.
Ich danke euch für eure Hilfe, Ehrlichkeit und Geduld.
Und dafür, dass ihr diesen Roman gelesen habt -
wieder und wieder und wieder und…
Erster Teil
1
Die Botschaft
In der alten kyralischen Dichtung heißt der Mond das Auge. Wenn das Auge weit offen ist, schreckt seine alles durchdringende Aufmerksamkeit vor bösen Taten ab – oder treibt diejenigen, die es gewagt haben, sich unter seinem Blick zu versündigen, in den Wahnsinn. Wenn das Auge so weit geschlossen ist, dass nur noch eine schmale Sichel seine Gegenwart verrät, lässt es zu, dass im Verborgenen begangene Taten – sowohl gute als auch böse – unbemerkt bleiben.
Mit einem schiefen Lächeln blickte Cery zum Mond empor. Es war nur noch eine schmale Sichel des Auges sichtbar, so wie es heimliche Liebhaber bevorzugten, aber zu solcher Art von Stelldichein war er in der Dunkelheit der Stadt nicht unterwegs. Seine Absicht war von finstererer Natur.
Ob seine Taten aber gut waren oder schlecht, war für ihn schwer zu entscheiden. Die Männer, die er verfolgte, verdienten ihr Schicksal, aber Cery hatte den Verdacht, dass der Auftrag, mit dem er betraut war, noch anderen Zwecken diente als nur demjenigen, die Anzahl der Morde zu verringern, die die Stadt in den letzten Jahren heimgesucht hatten. Er wusste nicht alles über das ganze schmutzige Geschäft – so viel stand jedenfalls fest -, aber vermutlich wusste er mehr als jeder andere in der Stadt.
Auf seinem Weg überdachte er noch einmal seine bisherigen Erkenntnisse. Er hatte festgestellt, dass diese Morde nicht von einem einzigen Mann, sondern von einer ganzen Reihe von ihnen begangen worden waren. Außerdem hatte er bemerkt, dass diese Männer alle der gleichen Rasse angehörten – es waren Sachakaner. Und das Wichtigste: Er wusste, dass sie allesamt Magier waren.
Soweit Cery bekannt war, gab es in der Gilde keine Sachakaner.
Wenn die Diebe irgendetwas von dieser ganzen Angelegenheit wussten, dann behielten sie ihr Wissen jedenfalls für sich. Bei einem Treffen der Diebe vor zwei Jahren hatten sich die Führer dieser locker verbündeten Gruppen der Unterwelt über Cerys Vorschlag, den Mörder zu finden und aufzuhalten, lustig gemacht. Diejenigen, die hinterhältig fragten, warum Cery nach so langer Zeit immer noch keinen Erfolg gehabt hatte, mochten angenommen haben, dass es nur einen einzigen Mörder gab, oder sie hatten ihn glauben machen wollen, dass sie so dachten.
Jedes Mal, wenn Cery mit einem der Mörder fertig war, begann ein anderer sein grausiges Werk. Unglücklicherweise musste es den Dieben so vorkommen, als scheitere Cery an seiner Aufgabe. Ihm blieb nichts anderes übrig, als ihre Fragen abzutun und zu hoffen, dass sein Erfolg bei anderen unterweltlichen Aktivitäten es wieder wettmachen würde.
Aus dem dunklen Viereck eines Hauseingangs löste sich die Gestalt eines hochgewachsenen Mannes. Unter dem Licht einer fernen Laterne erkannte Cery ein grimmiges, vertrautes Gesicht. Gol nickte kurz und schloss sich Cery an.
Sie erreichten einen Platz, an dem fünf Straßen zusammenliefen, und hielten dort auf ein keilförmiges Gebäude zu. Als sie durch die offenen Türen eintraten, nahm Cery den schweren Dunst von Schweiß, Bol und Küchengerüchen wahr. Zu der frühen Abendstunde war das Bolhaus gut besucht. Sie fanden einen Platz an der Theke, und Gol bestellte zwei Krüge Bol und eine Portion gesalzener Bohnen.
Gol hatte bereits die Hälfte der Bohnen verzehrt, bevor er das erste Wort sprach.
»Ganz hinten. Der Mann mit dem protzigen Ring. Was meinst du, Sohn?«
Wenn sie ihre wahre Identität nicht preisgeben wollten – und das wollten sie in diesen Tagen in der Öffentlichkeit nur in den seltensten Fällen -, gaben Cery und Gol sich oft als Vater und Sohn aus. Cery war zwar nur um einige Jahre jünger als Gol, aber dank seiner kleinen Statur und seines jungenhaften Gesichts wurde er oft für viel jünger gehalten, als er war. Nun wartete er einen Moment lang, bevor er den Blick unauffällig über den hinteren Teil des Schankraums schweifen ließ.
Selbst in dem überfüllten Bolhaus war der Mann, den Gol meinte, leicht zu erkennen. Sein charakteristisch breites, braunes Sachakaner-Gesicht war inmitten der blassen Kyralier unübersehbar. Der Mann beobachtete seine Umgebung sorgfältig. Nachdem ein flüchtiger Blick auf die Hand des Mannes Cery einen stumpfen Silberring mit einem roten Funkeln in der Mitte gezeigt hatte, wandte er sich wieder seinem Bolkrug zu.
»Was meinst du?«, murmelte Gol.
Cery nahm seinen Krug und tat so, als trinke er einen guten Schluck Bol. »Für uns zu schwierig, Pa. Soll sich jemand anders um ihn kümmern.«
Gol murmelte etwas in seinen Krug, während er ihn leerte und dann absetzte. Cery folgte ihm hinaus. Ein paar Straßenecken von dem Bolhaus entfernt, griff er in seine Jackentasche, zog drei Kupfermünzen hervor und drückte sie Gol in die Hand. Gol seufzte und machte sich davon.
Cery lächelte schief, bückte sich dann und öffnete ein in eine Mauer eingelassenes Gitter. Einem Fremden würde Gol in jeder Situation vollkommen gleichmütig erscheinen. Aber Cery kannte diesen Seufzer. Gol hatte Angst – und das aus gutem Grund. Solange diese Mörder unter ihnen waren, schwebte jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in den Hüttenvierteln in Gefahr.
Cery schlüpfte in den Gang hinter dem Gitter. Die drei Münzen, die er Gol gegeben hatte, waren die Bezahlung für drei Straßenkinder, um eine Botschaft zu überbringen – drei für den Fall, dass eine Botschaft verloren ging oder erst verspätet überbracht wurde. Die Empfänger der Nachricht waren irgendwelche Handwerker, die die Botschaft über die Stadtwache einem Botenjungen oder einem eigens dafür abgerichteten Tier übergeben würden. Niemand, der diese Nachricht weiterleitete, kannte die Bedeutung ihres Inhalts. Nur der Mann, für den die Botschaft letzten Endes bestimmt war, würde verstehen, was es damit auf sich hatte. Und dann würde die Jagd aufs Neue beginnen.
Nach der Unterrichtsstunde ging Sonea langsam durch das Gedränge und den Lärm des Hauptflurs der Universität. Für gewöhnlich zollte sie den Mätzchen der anderen Novizen kaum Aufmerksamkeit – aber heute war es etwas anderes.
Genau heute vor einem Jahr habe ich Regin in der Arena besiegt, dachte sie. Ein ganzes Jahr ist seit der Herausforderung vergangen, und so viel hat sich seither geändert. Die meisten Novizen waren zu zweit oder in kleinen Gruppen auf dem Weg zum hinteren Treppenhaus und zur Mensa. An der Tür eines Unterrichtsraums steckten ein paar Mädchen tuschelnd die Köpfe zusammen. Am Ende des Gangs kam gerade ein Lehrer aus einem Unterrichtsraum, gefolgt von zwei Novizen, die große Kisten trugen.
Sonea beobachtete die Gesichter der wenigen Novizen, die von ihr Notiz nahmen. Niemand starrte sie an oder sah auf sie herab. Einige Erstsemester konnten den Blick allerdings nicht von dem Incal auf ihrem Ärmel abwenden – dem Symbol, das sie als Schützling des Hohen Lords auswies.
Am Ende des Korridors ging sie die elegante, durch Magie geformte Treppe der Eingangshalle hinab. Die Stufen unter ihren Stiefeln gaben bei jedem Schritt einen weichen, glockenähnlichen Ton von sich. Als noch weitere Schritte die Stufen zum Klingen brachten, hallte das Geläut in der ganzen Halle wider. Sonea blickte auf und sah, dass ihr drei Novizen entgegenkamen, und unwillkürlich lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken.
Der Novize in der Mitte des Trios war Regin. Die beiden anderen waren seine engsten Freunde, Kano und Alend. Mit unbewegtem Gesicht setzte sie ihren Weg fort. Als Regin sie sah, erstarb sein Lächeln. Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke, bevor Regin sich abwandte und an ihr vorüberging.
Mit einem kleinen Seufzer der Erleichterung sah Sonea ihm nach. Seit der Herausforderung war jede ihrer Begegnungen nach diesem Muster verlaufen. Regin spielte die Rolle des guten Verlierers, und sie gestattete es ihm. Es wäre befriedigender gewesen, ihn seine Niederlage spüren zu lassen, aber sie war davon überzeugt, dass er in diesem Fall irgendwelche Möglichkeiten finden würde, sich insgeheim dafür zu revanchieren. Besser, sie ignorierten einander einfach.