Die Truhe musste jedoch wiedergefunden worden sein, sonst hätte Sonea Corens Tagebuch nicht in Händen gehalten. Was war aus den übrigen Büchern geworden? Befanden sie sich in Akkarins Besitz?
Oder war das Tagebuch eine Fälschung, geschaffen von Akkarin, um die Gilde davon zu überzeugen, dass schwarze Magie nicht gar so schlecht war, wie man allgemein vermutete? Möglicherweise unterzog er sie auf diese Weise einer Prüfung, um festzustellen, ob das Buch sie überzeugen würde.
Wenn dem so war, hatte Akkarin sich geirrt. Coren hatte geglaubt, dass schwarze Magie falsch sei. Die Lektüre seiner Ausführungen, seien sie nun wahr oder erfunden, würde niemanden vom Gegenteil überzeugen.
Aber wenn das Tagebuch echt war, warum hatte Akkarin es ihr dann gegeben? Sonea blickte stirnrunzelnd auf ihre Notizen hinab. Aus einer Laune heraus hätte er sie niemals von der Existenz dieses Dokuments wissen lassen. Er musste einen guten Grund gehabt haben.
Was hatte er ihr offenbart? Dass Coren schwarze Magie benutzt hatte und dass diese Kenntnisse ihn gelehrt hatten, wie man Stein manipulierte. Coren – ein berühmter Magier – hatte das gleiche Verbrechen begangen wie er. Vielleicht wollte Akkarin ihr zu verstehen geben, dass auch er diese Kenntnisse wider besseres Wissen erlangt hatte. Vielleicht wollte er ihr Mitgefühl und Verständnis.
Coren hatte jedoch keinen Novizen als Geisel gehalten, um seine Verbrechen zu verbergen.
Oder hätte der Architekt das Gleiche getan, wenn ihm die Gefahr gedroht hätte, zur Strafe seine Kräfte, seine Position oder sogar sein Leben zu verlieren? Sonea schüttelte langsam den Kopf.
Das plötzliche Erscheinen Lord Makins unterbrach ihren Gedankengang. Der Lehrer stellte eine große Kiste auf sein Pult, dann wandte er sich der Klasse zu.
»Heute werde ich Euch etwas über Illusionen lehren«, erklärte der Krieger. »Und wie man sie im Kampf benutzt. Das Wichtigste, was man in Bezug auf Illusionen im Gedächtnis behalten muss, ist Folgendes: Es geht ausschließlich um Täuschung. Eine Illusion kann Euch keinen Schaden zufügen, aber sie kann Euch in Gefahr bringen. Ich will Euch das anhand einer Geschichte verdeutlichen.«
Makin setzte sich auf seinen Stuhl und faltete die Hände auf dem Tisch. Hatte man zuvor noch das Scharren von Stiefeln auf dem Boden gehört und das Rascheln von Gewändern, so senkte sich jetzt absolute Stille über das Klassenzimmer. Lord Makins Geschichten waren immer fesselnd.
»Unsere Geschichtsbücher lehren uns, dass vor fünfhundert Jahren zwei Brüder in den Bergen von Elyne lebten. Die beiden Magier, Grind und Lond, waren geschickte und erfahrene Krieger. Eines Tages zog eine Karawane mit Reisenden vorüber, geführt von einem Kaufmann namens Kamaka. Seine Tochter, eine schöne junge Frau, reiste mit ihm. Die beiden Brüder sahen die Karawane und stiegen von ihrem Heim in den Bergen hinab, um Waren zu kaufen. Als sie Kamakas Tochter erblickten, verloren beide Männer sofort ihr Herz an sie.«
Makin seufzte und schüttelte traurig den Kopf, was den Novizen ein Lächeln entlockte. »Es entbrannte ein Streit darüber, welcher von beiden das Mädchen bekommen sollte. Die beiden Brüder konnten ihren Streit nicht mit Worten beilegen, daher kämpften sie gegeneinander. Es heißt, der Kampf habe mehrere Tage gedauert (was unwahrscheinlich ist), und die Brüder stellten schließlich fest, dass sie einander an Stärke und Geschick ebenbürtig waren. Es war Grind, der das Unentschieden brach. Als er seinen Bruder unter einem Felsvorsprung stehen sah, auf dem ein riesiger Steinbrocken lag, kam er auf die Idee, den Felsbrocken auf seinen Bruder stürzen zu lassen, ihm aber die Illusion eines herabfallenden Felsens vorauszuschicken.
Lond bemerkte, dass sein Bruder etwas über seinem Kopf anstarrte. Als er aufblickte, sah er einen Steinbrocken auf sich herabstürzen und begriff sofort, dass es sich um eine Illusion handelte. Den zweiten Steinbrocken, der hinter der Illusion verborgen war, sah er natürlich nicht.
Grind hatte damit gerechnet, dass Lond das Täuschungsmanöver durchschauen würde. Als ihm klar wurde, dass er seinen eigenen Bruder getötet hatte, wurde er von Trauer überwältigt. Die Karawane konnte weiterziehen, und Kamakas Tochter reiste mit ihnen. Ihr seht also«, beendete Makin seine Geschichte, »Illusionen können Euch zwar nicht verletzen, aber wenn Ihr sie nicht als Täuschung durchschaut, könnt Ihr trotzdem Schaden nehmen.«
Der Krieger erhob sich. »Und wie schafft man eine Illusion? Das ist es, was ich Euch heute beibringen will. Wir werden damit anfangen, die Gegenstände, die ich mitgebracht habe, zu kopieren. Seno, komm bitte nach vorn.«
Sonea hörte zu, während der Lehrer verschiedene Möglichkeiten erklärte, wie man mithilfe von Magie ein Abbild von irgendetwas heraufbeschwor. Nachdem Seno die Anweisungen des Lehrers befolgt hatte, kam er auf dem Weg zu seinem eigenen Pult an Sonea vorbei. Er sah sie an und lächelte. Sie erwiderte seinen stummen Gruß. Seit einer Übungsstunde in den Kriegskünsten vor einigen Wochen, in der sie ihm einen Trick gezeigt hatte, den schwächere Magier gegen stärkere einsetzen konnten, war Seno immer besonders freundlich zu ihr.
Während der restlichen Stunde konzentrierte sie sich darauf, die Illusionstechniken zu erlernen. Gerade als es ihr gelungen war, die Illusion einer Pachi-Frucht heraufzubeschwören, tauchte in der Luft vor ihr etwas anderes auf.
Es war eine Blume, deren Blätter von einem leuchtenden, herbstlichen Orangeton waren. Sonea streckte die Hand aus, und ihre Finger glitten durch die eigenartige Blüte hindurch. Sie zerstob zu tausend Lichtfunken, die, bevor sie verschwanden, einen flinken Tanz aufführten.
»Gut gemacht!«, rief Trassia.
»Das war ich nicht.« Als Sonea sich umdrehte, grinste Seno sie an. Auf dem Tisch vor ihm lag ein orangefarbenes Blatt.
Lord Makin, der vor der Klasse stand, räusperte sich vernehmlich. Sonea drehte sich um stellte fest, dass der Lehrer sie mit einem strengen Blick bedachte. Sie zuckte die Achseln, um ihre Unschuld zu beteuern. Er deutete vielsagend mit dem Kopf auf die Frucht vor ihr.
Sie konzentrierte sich, bis eine illusionäre Kopie daneben auftauchte. Sie war von einem dunkleren Rot, als sie hätte sein sollen, und die Beschaffenheit ihrer Haut hatte verdächtige Ähnlichkeit mit der Nervatur eines Blatts. Sonea seufzte. Es wäre einfacher gewesen, hätte ihr nicht die Erinnerung an Herbstblätter so frisch vor Augen gestanden. Sie kämpfte ihren Ärger nieder. Seno hatte nicht die Absicht gehabt, sie abzulenken. Er hatte lediglich angegeben.
Aber warum stellte er seinen Erfolg nur vor ihr zur Schau und vor niemandem sonst? Er versuchte sicher nicht, sie zu beeindrucken.
Oder vielleicht doch?
Sie widerstand der Versuchung, sich umzudrehen und festzustellen, was er tat. Seno war ein fröhlicher Junge, redselig und liebenswert, und sie war wahrscheinlich das einzige kyralische Mädchen, das ihn nicht überragte …
Worüber denke ich da nach? Stirnrunzelnd stellte sie fest, dass ihre Illusion sich in einen formlosen, leuchtenden Ball verwandelt hatte. Selbst wenn ich mir nicht Akkarins wegen Sorgen machen müsste, was ist mit Dorrien?
Eine Erinnerung stieg in ihr auf: Rothens Sohn, wie er an der Quelle im Wald hinter der Gilde gestanden und sich vorgebeugt hatte, um sie zu küssen. Sie drängte das Bild beiseite.
Sie hatte Dorrien seit über einem Jahr nicht mehr gesehen. Wann immer ihre Gedanken in seine Richtung wanderten, zwang sie sich, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Es war sinnlos, etwas zu bedauern – außerdem wäre es ohnehin eine unmögliche Beziehung gewesen. Sie würde bis zu ihrem Abschluss in der Gilde festsitzen, während er bis auf wenige Wochen im Jahr weit entfernt lebte, in einem Dorf am Fuß der Berge.