Rothen, der sich sofort ein wenig besser fühlte, stand auf, reichte sein leeres Glas einem Diener und machte sich dann auf die Suche nach Yaldin.
Seit Irand ihnen ein Arbeitszimmer zugewiesen hatte, hatten Dannyl und Tayend nach und nach Möbelstücke herbeigeschafft, bis der Raum so behaglich war wie das Gästezimmer eines Edelmanns. Neben dem großen Tisch, der früher einmal den Raum beherrscht hatte, fanden sich dort jetzt bequeme Sessel und eine Couch, ein gut bevorrateter Weinschrank und Öllampen zum Lesen. Die Lampen waren außerdem die einzige Wärmequelle, wenn Dannyl nicht da war. Heute jedoch hatte er in einer Nische des Raums eine magische Kugel platziert, und ihre Wärme hatte die Kälte der Steinmauern schnell vergessen lassen.
Bei Dannyls Ankunft in der Bibliothek war Tayend nicht da gewesen. Nachdem Dannyl sich eine Stunde lang mit Irand unterhalten hatte, war er in ihr Arbeitszimmer gegangen, um dort auf seinen Freund zu warten. In der vagen Hoffnung, Hinweise auf alte Magie zu finden, kämpfte er sich gerade durch die Dokumente eines Anwesens am Meer, als Tayend endlich erschien.
Der Gelehrte blieb, leicht schwankend, mitten im Raum stehen. Offensichtlich war er ein wenig betrunken.
»Sieht so aus, als hättest du dich gut amüsiert«, bemerkte Dannyl.
Tayend stieß einen dramatischen Seufzer aus. »Äh… ja. Es gab guten Wein. Es gab schöne Musik. Es gab sogar einige recht hübsche Akrobaten zu bewundern… aber ich habe mich losgerissen, weil ich wusste, dass ich nur für einige wenige süße Stunden vor der Sklaverei in der Bibliothek – in Diensten meines gnadenlosen Gildenbotschafters – fliehen konnte.«
Dannyl verschränkte die Arme vor der Brust und lächelte. »Sklaverei, wahrhaftig! Du hast in deinem ganzen Leben nicht einen einzigen Tag ehrenwerter Arbeit geleistet.«
»Aber dafür gab es reichlich Tage, die mit unehrenhafter Arbeit ausgefüllt waren.« Tayend grinste. »Außerdem habe ich bei diesem Fest durchaus eine kleine Arbeit für uns erledigt. Dem Marane war dort – der Mann, der möglicherweise ein Rebell ist.«
»Wirklich?« Dannyl ließ die Arme wieder sinken. »Das ist ja ein Zufall.«
»Eigentlich nicht.« Tayend zuckte die Achseln. »Ich begegne ihm gelegentlich auf Festen, aber seit er sich mir seinerzeit vorgestellt hat, haben wir nicht mehr oft miteinander gesprochen. Wie dem auch sei, ich hielt es für eine gute Idee, ein wenig mit ihm zu plaudern und anzudeuten, dass wir Interesse hätten, an seinen Festen teilzunehmen.«
Ein Stich der Sorge durchzuckte Dannyl. »Was hast du gesagt?«
Tayend winkte ab. »Nichts Genaues. Ich habe nur einfließen lassen, dass ich keine Einladungen mehr erhalten hätte, seit ich begonnen habe, für dich zu arbeiten. Dann habe ich mich zurückhaltend, aber interessiert gegeben.«
»Das hättest du nicht…« Dannyl runzelte die Stirn. »Wie oft hast du solche Einladungen bekommen?«
Der Gelehrte kicherte. »Du klingst eifersüchtig, Dannyl. Nur ein oder zwei Mal im Jahr. Und es sind auch eigentlich keine richtigen Einladungen. Er deutete lediglich an, dass ich bei seinen Festen nach wie vor willkommen sei.«
»Und diese Andeutungen haben aufgehört, seit du in meine Dienste getreten bist?«
»Offensichtlich wirkst du furchtbar einschüchternd auf ihn.«
Dannyl ging im Raum auf und ab. »Du hast angedeutet, dass wir erraten haben, was er und seine Freunde im Schilde führen. Wenn sie tatsächlich so weit in diese Angelegenheit verwickelt sind, wie Akkarin sagt, dann werden sie selbst die leiseste Andeutung von Gefahr ernst nehmen. Sehr ernst.«
Tayends Augen weiteten sich. »Ich habe nur… interessiert geklungen.«
»Das reicht wahrscheinlich, um Marane in Panik zu versetzen. Vermutlich denkt er gerade in diesem Moment darüber nach, was er unsretwegen unternehmen soll.«
»Aber was wird er tun?«
Dannyl seufzte. »Ich bezweifle, dass er abwarten wird, ob die Gilde kommt, um ihn in Arrest zu nehmen. Wahrscheinlich denkt er über verschiedene Möglichkeiten nach, wie er uns zum Schweigen bringen kann. Erpressung. Mord.«
»Mord! Aber… er wüsste doch sicher, dass ich nicht an ihn herangetreten wäre, wenn ich die Absicht hätte, ihn der Gilde auszuliefern? Wenn ich ihn ausliefern wollte, dann würde ich ihn einfach… ausliefern.«
»Bloß aus dem Verdacht heraus, er könne ein Rebell sein?«, fragte Dannyl. »Er wird von uns genau das erwarten, was wir vorhaben – dass wir so tun, als wollten wir ihrem Zirkel beitreten, um unseren Verdacht zu bestätigen. Deshalb hat Akkarin vorgeschlagen, Marane etwas zu liefern, mit dem er uns erpressen könnte.«
Tayend setzte sich und rieb sich die Stirn. »Glaubst du wirklich, dass er versuchen wird, mich zu töten?« Er fluchte. »Ich habe einfach nur eine günstige Gelegenheit gesehen und, und…«
»Nein. Wenn er auch nur halbwegs bei Verstand ist, wird er es nicht riskieren, dich zu töten.« Dannyl lehnte sich an den Tisch. »Er wird so viel wie möglich über uns in Erfahrung bringen und herausfinden, was uns teuer ist. Etwas, dem Schaden zuzufügen er drohen könnte. Familie. Wohlstand. Ehre.«
»Uns?«
Dannyl schüttelte den Kopf. »Selbst wenn er Gerüchte gehört haben sollte, würde er sich nicht darauf verlassen. Er will etwas, dessen er sich sicher sein kann. Wenn wir es so einfädeln könnten, dass unser kleines Geheimnis ihm zu Ohren käme, könnten wir uns darauf verlassen, dass er diese Sache als Druckmittel gegen uns benutzt.«
»Bleibt uns denn noch Zeit dazu?«
Dannyl dachte über die Worte des Gelehrten nach. »Wahrscheinlich – wenn wir schnell genug handeln…«
Das Strahlen in den Augen des Gelehrten war erloschen. Dannyl war sich nicht sicher, welche von beiden Möglichkeiten er bevorzugt hätte: Tayend tröstend in den Arm zu nehmen oder ihn zu schütteln, bis er Vernunft annahm. Wenn die elynischen Höflinge versuchten, auf eigene Faust Magie zu erlernen, brachen sie eins der wichtigsten Gesetze der Verbündeten Länder. Ein solches Vergehen wurde mit lebenslänglicher Einkerkerung oder sogar mit der Hinrichtung bestraft. Wenn den Rebellen Entdeckung drohte, würden sie das gewiss sehr ernst nehmen.
Tayend blickte bestürzt drein; wenn er bisher blind für die Gefahr gewesen war, dann hatte er seinen Irrtum jetzt erkannt. Seufzend durchquerte Dannyl den Raum und legte Tayend die Hände auf die Schultern.
»Keine Sorge, Tayend. Du hast die Dinge ein wenig zu früh in Bewegung gebracht, das ist alles. Lass uns zu Irand gehen und ihm Bescheid geben, dass wir sofort handeln müssen.«
Tayend nickte, dann erhob er sich und folgte Dannyl zur Tür.
Es war schon spät, als Sonea ein Klopfen an der Tür ihres Zimmers hörte. Sie seufzte vor Erleichterung. Ihre Dienerin, Viola, hatte sich verspätet, und Sonea wartete sehnsüchtig auf ihren Schlummertrunk, eine Tasse Raka.
»Herein.« Ohne aufzublicken, sandte sie einen Gedanken zur Tür und gab ihr den Befehl, sich zu öffnen. Als die Dienerin nicht sofort in den Raum trat, drehte Sonea sich um, und das Blut gefror ihr in den Adern.
Akkarin stand in der Tür, ein dunkler Schemen, von dem nur das blasse Gesicht zu erkennen war. Dann bewegte er sich, und Sonea sah, dass er zwei große, schwere Bücher bei sich hatte. Der Einband des einen war fleckig und zerlumpt.
Mit hämmerndem Herzen stand sie auf und ging widerstrebend auf die Tür zu, blieb jedoch einige Schritte vor Akkarin stehen, um sich zu verbeugen.
»Hast du das Tagebuch ausgelesen?«, fragte er.
Sie nickte. »Ja, Hoher Lord.«
»Und was hältst du davon?«
Was sollte sie sagen? »Es… es beantwortet viele Fragen«, erklärte sie ausweichend.
»Was zum Beispiel?«
»Wie es Lord Coren gelungen ist, Stein zu manipulieren.«
»Und weiter?«
Dass er schwarze Magie gelernt hat. Sie wollte den Gedanken nicht laut aussprechen, aber Akkarin erwartete offensichtlich, dass sie diese Tatsache in Worte fasste. Was würde er tun, wenn sie sich weigerte, darüber zu reden? Wahrscheinlich würde er weiter in sie dringen. Sie war zu müde, um darüber nachzudenken, wie sie ein solches Gespräch vielleicht vermeiden könnte.