Ihr Sieg über Regin in einem öffentlichen Kampf hatte allerdings mehr bewirkt als nur das Ende seiner Schikanen. Sie schien damit auch den Respekt der anderen Novizen und der meisten Lehrer gewonnen zu haben. Jetzt war sie nicht mehr nur das Hüttenmädchen, dessen Kräfte sich zum ersten Mal in einem Angriff auf die Gilde gezeigt hatten – während der jährlichen Reinigung der Stadt von Herumtreibern und anderen unerwünschten Personen. Die Erinnerung an jenen Tag entlockte ihr unwillkürlich ein Lächeln. Ich war ebenso überrascht, dass ich Magie benutzt hatte, wie sie es waren.
Es hing ihr auch nicht weiter nach, dass sie eine »wilde Magierin« gewesen war, die sich ihrer Gefangennahme durch einen Handel mit den Dieben entzogen hatte. Damals schien das eine gute Idee zu sein, dachte sie. Ich glaubte, dass die Gilde mich töten wollte. Schließlich hatten sie nie zuvor jemanden ausgebildet, der nicht aus einem der Häuser stammte. Für die Diebe war es allerdings ein schlechtes Geschäft. Ich war nicht in der Lage, meine Kräfte so weit zu kontrollieren, dass sie von irgendwelchem Nutzen gewesen wären. Obwohl ihre Zugehörigkeit zur Gilde manchen immer noch ein Dorn im Auge war, wurde sie auch nicht länger als die Außenseiterin betrachtet, die Lord Ferguns Ruin verschuldet hatte. Nun, sie hatte ihn schließlich nicht dazu gezwungen, Cery einzusperren und mit seiner Ermordung zu drohen, um sie zu erpressen, auf seine Pläne einzugehen. Er hatte seinerzeit die Gilde davon überzeugen wollen, dass man Menschen niederer Herkunft keine Magie anvertrauen dürfe, stattdessen aber nur bewiesen, dass auch einige Magier dieser Macht nicht würdig waren. Bei dem Gedanken an die vielen Novizen, die ihr soeben im Flur begegnet waren, musste Sonea lächeln. Nach deren vorsichtiger Neugier zu schließen, schienen sie bei ihrem Anblick in erster Linie daran zu denken, wie leicht sie ihren Herausforderungskampf gewonnen hatte. Sie fragten sich, wie stark sie noch werden würde. Sonea vermutete, dass sogar einige der Lehrer ein wenig Angst vor ihr hatten.
Vom Fuß der Treppe aus ging sie quer durch die Eingangshalle zu den offenen Toren der Universität. Von der Schwelle aus blickte sie zu dem grauen, zweigeschossigen Bau am Rand des Gartens hinüber, und ihr Lächeln verflog.
Ein Jahr ist seit der Herausforderung vergangen, aber einiges hat sich eben nicht geändert.
Obwohl sie den Respekt der Novizen gewonnen hatte, hatte sie immer noch keine wirklichen Freunde, was keineswegs daran lag, dass sie alle Angst vor ihr hatten – oder vor ihrem Mentor. Seit der Herausforderung hatten einige der Studenten durchaus versucht, sie in ihre Gespräche einzubeziehen. Während des Unterrichts oder in den Unterrichtspausen ließ sie sich nur allzu gern darauf ein – aber sie vermied es, irgendwelche Verabredungen für ihre Freizeit zu treffen.
Mit einem Seufzer stieg sie die Stufen vor der Universität hinab. Jeder, mit dem sie sich befreundete, wäre für den Hohen Lord ein weiteres Werkzeug, das er gegen sie einsetzen könnte. Wenn sich jemals die Gelegenheit fand, der Gilde seine Verbrechen zu offenbaren, wären alle Menschen, an denen ihr lag, in Gefahr. Es machte wenig Sinn, Akkarin eine noch größere Auswahl möglicher Opfer zu präsentieren.
Soneas Gedanken wanderten zurück zu der Nacht, in der sie zusammen mit ihrem Freund Cery auf das Gelände der Gilde vorgedrungen war. Das lag nun über zweieinhalb Jahre zurück. Obwohl sie damals geglaubt hatte, die Gilde trachte ihr nach dem Leben, war ihr das Risiko vertretbar erschienen. Damals hatte sie ihre magische Kraft noch nicht kontrollieren können, so dass sie für die Diebe nutzlos gewesen war. Cery hatte gehofft, dass sie vielleicht etwas lernen würde, wenn sie die Magier bei deren Ausbildung beobachtete.
Nachdem sie an diesem Abend und in der Nacht bereits Zeugin vieler faszinierender Dinge geworden war, hatte sie sich dem grauen Haus genähert, das etwas abseits von den anderen Gebäuden lag. Dort hatte sie durch einen Lüftungsschacht gesehen, wie in einem Kellerraum ein schwarz gewandeter Magier einen merkwürdigen Ritus vollzog…
Der Magier nahm den funkelnden Dolch und sah den Diener an.
»Der Kampf hat mich geschwächt. Ich brauche deine Kraft.«
Der Diener kniete nieder und streckte den Arm aus. Der Magier ließ die Klinge über die Haut des Mannes gleiten und drückte dann seine Hand auf die Wunde…
…Dann spürte sie eine merkwürdige Empfindung, als ob Insekten in ihren Ohren flatterten.
Die Erinnerung ließ Sonea frösteln. Sie hatte damals die Bedeutung dieser Dinge nicht verstanden, und danach war so viel geschehen, dass sie versucht hatte, es zu vergessen. Ihre Kraft war auf so gefährliche Weise angewachsen, dass die Diebe sie an die Gilde ausgeliefert hatten und sie auf diese Art und Weise herausfand, dass die Magier keineswegs ihren Tod wollten. Sie beschlossen vielmehr, sie in die Gilde aufzunehmen. Dann hatte Lord Fergun Cery gefangen genommen und sie erpresst, mit ihm gemeinsame Sache zu machen. Die Pläne des Kriegers waren allerdings fehlgeschlagen, da man Cery in seinem Gefängnis unterhalb der Universität entdeckte und Sonea einer Wahrheitslesung durch Administrator Lorlen zustimmte, um so Ferguns Erpressungsversuch zu beweisen. Und erst während dieser Wahrheitslesung war ihre Erinnerung an den schwarz gewandeten Magier in dem Kellerraum wieder zum Vorschein gekommen. Lorlen hatte den Magier als seinen Freund Akkarin erkannt, den Hohen Lord der Gilde, und er hatte sofort gewusst, dass es sich bei dem verbotenen Ritual um schwarze Magie handelte. Aus Lorlens Gedanken hatte Sonea erfahren, wozu ein schwarzer Magier in der Lage war. Durch den Gebrauch dieser verbotenen Kunst musste Akkarin Kräfte weit über seine natürlichen Grenzen hinaus angesammelt haben. Der Hohe Lord war ohnehin schon für seine ungewöhnlich große Kraft bekannt gewesen, und als schwarzer Magier war er, fürchtete Lorlen, so stark, dass es nicht einmal der ganzen Gilde mit ihrer vereinten Kraft möglich sein würde, ihn zu besiegen.
Lorlen war daher zu dem Schluss gekommen, dass eine Auseinandersetzung mit dem Hohen Lord nicht infrage kam. Sein Verbrechen musste so lange ein Geheimnis bleiben, bis ein Weg gefunden werden konnte, Akkarin mit einiger Sicherheit unschädlich zu machen. Nur Rothen, der Magier, der Soneas Mentor werden sollte, durfte in das Geheimnis eingeweiht werden; wenn er sie unterrichtete, würde er wahrscheinlich in ihrem Gedächtnis auf die Erinnerung an Akkarin stoßen und die Wahrheit auf diese Weise ohnehin erfahren.
Bei dem Gedanken an Rothen wurde sie zuerst traurig, dann zornig. Rothen hatte ihr mehr bedeutet als ein Mentor oder Lehrer; er war wie ein Vater für sie gewesen. Ohne Rothens Unterstützung hätte sie Regins Schikanen vielleicht nicht ertragen. Und als Dank für seine Mühen hatte er die Folgen der von Regin in die Welt gesetzten bösartigen Gerüchte ertragen müssen, dass er sich seine Dienste als Mentor im Bett vergelten ließ.
Und gerade, als diese Verdächtigungen ein Ende gefunden zu haben schienen, war alles anders geworden. Eines Tages war Akkarin in Rothens Gemächern aufgetaucht; er hatte herausgefunden, dass sein Geheimnis offenbar geworden war. Er hatte Lorlens Geist einer Lesung unterzogen und wollte das Gleiche nun bei Rothen und Sonea tun. Da sie wussten, dass Akkarin zu mächtig war, um sich gegen ihn wehren zu können, hatten sie sich gefügt. Danach war Akkarin im Raum auf und ab gegangen.
»Ihr beide würdet mich bloßstellen, wenn ihr könntet«, sagte er. »Ich werde verlangen, dass man mich zu Soneas Mentor bestimmt. Sie wird mir Euer Schweigen garantieren. Solange sie mir gehört, werdet Ihr niemals irgendjemanden wissen lassen, dass ich schwarze Magie praktiziere.« Er blickte zu Sonea hinüber. »Umgekehrt wird Rothens Wohlergehen mir deinen Gehorsam sichern.«