Wie erwartet führte er sie nicht zur Universität, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Er setzte seinen Weg gut zweihundert Schritte fort, dann blieb er plötzlich stehen. Sie spürte die Vibrationen einer Barriere, die den Gang versperrte. Ein schwaches Licht kräuselte sich quer durch den Tunnel, und die Barriere verschwand. Ohne ein Wort zu sprechen, ging Akkarin weiter.
Er blieb noch dreimal stehen, um Barrieren außer Kraft zu setzen. Nachdem sie die vierte passiert hatten, drehte Akkarin sich um und zog die Schutzschilde der Gilde hinter ihnen wieder hoch. Wenn sie es bei ihren früheren Erkundungszügen gewagt hätte, weiter vorzudringen als bis zu Akkarins Keller, wäre sie auf diese Barrieren gestoßen.
Der Tunnel machte eine leichte Biegung nach rechts. Seitengänge kamen in Sicht. In einen davon bog Akkarin ein, ohne zu zögern, und ihr Weg schlängelte sich durch mehrere verfallene Räume. Als er das nächste Mal innehielt, standen sie vor den Trümmern der eingestürzten Decke. Sie sah ihn fragend an.
Seine Augen funkelten im Lampenlicht. Er blickte durchdringend auf die Blockade. Dann erfüllte ein trockenes Scharren den Tunnel, während die Steine sich zu einer grobbehauenen Treppe formten. An ihrem oberen Ende wurde eine Öffnung sichtbar. Akkarin setzte den Fuß auf die erste Stufe und stieg langsam hinauf.
Sonea folgte ihm. Am oberen Ende der Treppe zweigte ein weiterer Gang ab. Das Licht der Laterne enthüllte grobe Wände, die aus einem Flickwerk kleiner Ziegelsteine von schlechter Qualität gemacht waren. Die Luft roch feucht und vertraut. Dieser Ort erinnerte sie stark an… an…
Die Straße der Diebe.
Sie befanden sich in den Tunneln unter der Stadt, die von der Unterwelt benutzt wurden. Akkarin drehte sich um und blickte die Treppe hinab. Die Stufen schoben sich nach vorn, um das Treppenhaus zu blockieren. Sobald der Weg, der hinter ihnen lag, wieder versperrt war, bog Akkarin in den Tunnel am oberen Ende der Treppe ein.
In Soneas Kopf überschlugen sich die Fragen. Wussten die Diebe, dass der Hohe Lord der Magiergilde ihre Tunnel benutzte und dass es unter der Gilde Tunnel gab, die mit ihren eigenen verbunden waren? Sie wusste, dass die Diebe ihr Reich mit großer Sorgfalt bewachten, daher bezweifelte sie, dass Akkarin ihrer Aufmerksamkeit entgangen war. Hatte er ihre Erlaubnis erwirkt, die Straße zu benutzen? Sonea betrachtete nachdenklich seine primitive Kleidung. Vielleicht hatte er die Erlaubnis der Diebe mit einer falschen Identität erworben.
Nachdem sie abermals mehrere hundert Schritte zurückgelegt hatten, trat ein dünner Mann mit trüben Augen aus einer Nische und nickte Akkarin zu. Er hielt kurz inne, um Sonea anzusehen. Ihre Anwesenheit überraschte ihn offensichtlich, aber er sagte nichts. Schließlich wandte er sich ab und ging voran durch den nächsten Tunnel.
Ihr schweigsamer Führer gab ein schnelles Tempo vor, während er sie durch ein gewundenes, raffiniertes Labyrinth begleitete. Langsam wurde Sonea sich eines Gestanks bewusst, den sie kannte, dem sie aber keinen Namen zu geben vermochte. Der Gestank veränderte sich ebenso wie die Mauern, aber irgendetwas an seiner Wechselhaftigkeit erschien ihr ebenso vertraut. Erst als Akkarin stehen blieb und an eine Tür klopfte, wurde Sonea klar, was sie da roch.
Es waren die Hüttenviertel. Der Geruch war eine Mischung aus menschlichen und tierischen Exkrementen, Schweiß, Kohl, Rauch und Bol. Sonea taumelte leicht, als die Erinnerungen über ihr zusammenschlugen: Hier hatte sie mit ihrer Tante und ihrem Onkel gearbeitet, hierher war sie heimlich gegangen, um sich Cery und seiner Bande von Straßenkindern anzuschließen.
Dann wurde die Tür geöffnet, und Sonea kehrte in die Gegenwart zurück.
Ein hochgewachsener Mann stand in der Öffnung, und sein grobes Hemd spannte sich über einer breiten Brust. Er nickte Akkarin respektvoll zu, doch als er Sonea erblickte, runzelte er die Stirn, als erkenne er ihr Gesicht, wisse aber nicht, warum. Einen Moment später zuckte er die Achseln und trat beiseite.
»Kommt herein.«
Sonea folgte Akkarin in einen winzigen Raum, der kaum groß genug war, um ihr und den beiden Männern sowie einem schmalen Schrank Platz zu bieten. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich eine schwere Tür. Sonea nahm eine Vibration aus dieser Richtung wahr und begriff, dass die Tür durch eine starke magische Barriere gesichert war. Ihre Haut begann zu prickeln. Was gab es in den Hüttenvierteln, das auf so machtvolle Weise verschlossen werden musste?
Der Mann drehte sich zu Akkarin um. Sein Zögern und seine Nervosität verrieten Sonea, dass er wahrscheinlich wusste, wer sein Besucher war – zumindest schien er genug zu wissen, um zu begreifen, dass er einen wichtigen und machtvollen Mann vor sich hatte.
»Er ist wach«, brummte er mit einem ängstlichen Blick auf die Tür.
»Danke, dass du ihn bewacht hast, Morren«, sagte Akkarin freundlich.
»Kein Problem.«
»Hast du einen roten Edelstein bei ihm gefunden?«
»Nein. Und ich hab ihn gründlich durchsucht. Hab nichts gefunden.«
Akkarin runzelte die Stirn. »Also schön. Bleib hier. Das ist Sonea. Ich werde sie in wenigen Minuten wieder hinausschicken.«
Morren drehte sich ruckartig zu ihr um. »Die Sonea?«
»Ja, die lebende, atmende Legende«, erwiderte Akkarin trocken.
Morren lächelte sie an. »Es ist mir eine Ehre, Euch kennen zu lernen, Mylady.«
»Die Ehre ist ganz meinerseits, Morren«, entgegnete sie, und einen Moment lang überwog ihre Verwunderung ihre Furcht. Die lebende, atmende Legende?
Morren nahm einen Schlüssel aus seiner Tasche, schob ihn in das Schloss der Tür und drehte ihn um. Dann machte er einen Schritt zur Seite, um Akkarin näher treten zu lassen. Sonea blinzelte, als sie spürte, dass sie von Magie umgeben war. Akkarin hatte einen Schild um sie beide gewoben. Sie spähte, angespannt vor Neugier, über seine Schulter. Langsam schwang die Tür auf.
Der Raum dahinter war sehr klein. Eine steinerne Bank war das einzige Möbelstück. Auf der Bank lag ein Mann, der um Arme und Beine Fesseln trug.
Als der Mann Akkarin sah, trat Entsetzen in seine Augen. Er begann, schwach gegen seine Fesseln zu kämpfen. Sonea starrte ihn erschrocken an. Er war jung, wahrscheinlich nicht viel älter als sie. Sein Gesicht war breit und seine Haut von einem kränklichen Braunton. Seine dünnen Arme waren überzogen von Narben, und über seinen linken Unterarm zog sich eine frische, von getrocknetem Blut umrahmte Schnittwunde. Der Fremde sah nicht so aus, als könnte er irgendjemandem Schaden zufügen.
Akkarin trat neben den Mann, dann legte er ihm eine Hand auf die Stirn. Die Augen des Gefangenen weiteten sich. Sonea schauderte, als ihr klar wurde, dass Akkarin die Gedanken des Mannes las.
Plötzlich machte er eine knappe Handbewegung und packte das Kinn des Gefangenen. Sofort presste der Mann die Kiefer fest zusammen und riss den Kopf zur Seite. Akkarin drückte ihm mit Gewalt den Mund auf. Sonea sah Gold aufblitzen, dann warf Akkarin etwas auf den Boden.
Ein Goldzahn. Sonea trat entsetzt einen Schritt zurück und zuckte im nächsten Moment heftig zusammen, als der Mann zu lachen begann.
»Sie haben deine Frau schon gesehen«, stieß er mit einem schweren Akzent hervor, behindert durch den fehlenden Zahn. »Kariko sagt, sie wird ihm gehören, wenn er dich getötet hat.«
Akkarin lächelte und warf einen kurzen Blick auf Sonea. »Wie schade, dass weder du noch ich erleben werden, wie er das versucht.«
Dann hob er den Fuß und trat auf den Zahn. Zu Soneas Überraschung knirschte der Zahn unter Akkarins Stiefel. Als er beiseite trat, sah sie, dass das Gold geborsten war und winzige, rote Splitter den Boden übersäten.
Stirnrunzelnd betrachtete Sonea den verbogenen Klumpen, der früher einmal ein Zahn gewesen war, und versuchte zu begreifen, was das zu bedeuten hatte. Wovon hatte der Mann gesprochen? »Sie haben deine Frau gesehen.« Wer waren »sie«? Wie konnten sie sie gesehen haben? Offensichtlich hatte es mit dem Zahn zu tun. Warum sollte jemand ein Juwel in einem Zahn verstecken? Außerdem war es offensichtlich kein Juwel. Der Stein sah so aus, als sei er aus Glas gewesen. Während sie noch die Splitter betrachtete, fiel ihr ein, dass Akkarin Morren gefragt hatte, ob er einen roten Edelstein gefunden habe. Der berüchtigte Mörder trug einen Ring mit einem roten Edelstein. Ebenso wie Lorlen.