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Plötzlich wusste sie genau, wie sie den Widerstand des Gefangenen überwinden konnte. Binnen eines einzigen Herzschlags war sie in seinen Geist vorgedrungen.

— Gut. Halte dich weiter im Hintergrund. Beobachte seine Gedanken. Wenn du eine Erinnerung siehst, die du näher zu erkunden wünschst, strecke deinen Willen nach seinem Geist aus. Das ist etwas schwieriger. Beobachte mich.

Der Mann dachte an den Zahn und fragte sich, ob sein Herr die junge Frau bei ihrem Eintritt in den Kerker gesehen hatte.

— Wer bist du?, fragte Akkarin.

— Tavaka.

Plötzlich wusste Sonea, dass der Mann bis vor kurzer Zeit ein Sklave gewesen war.

— Wer ist dein Herr?

— Harikava. Ein mächtiger Ichani. Ein Gesicht, das unverkennbar einem Sachakaner gehörte, blitzte in seinen Gedanken auf. Es war ein grausames Gesicht, hart und klug.

— Wer sind die Ichani?

— Mächtige Magier.

— Warum halten sie Sklaven?

— Für Magie.

Eine vielschichtige Erinnerung wehte durch Soneas Gedanken. Sie hatte den Eindruck, als gebe es ungezählte Erinnerungen an ein und dasselbe Ereignis – der leichte Schmerz einer flachen Schnittwunde, das Abziehen von Kraft…

Die Ichani, das begriff sie plötzlich, benutzten schwarze Magie, um Kraft von ihren Sklaven abzuziehen und sich selbst auf diese Weise beständig zu stärken.

— Aber jetzt nicht mehr! Ich bin nicht länger ein Sklave. Harikava hat mich freigegeben.

— Zeig es mir.

Eine Erinnerung blitzte durch Tavakas Geist. Harikava saß in einem Zelt. Er sagte, dass er Tavaka befreien werde, falls dieser eine gefährliche Mission übernähme. Sonea spürte, dass Akkarin die Kontrolle über die Erinnerung übernahm. Die Mission bestand darin, nach Kyralia zu gehen und festzustellen, ob Karikos Worte der Wahrheit entsprachen. War die Gilde schwach? Hatte sie die Anwendung größerer Magie verschmäht? Viele Sklaven waren gescheitert. Wenn er Erfolg hatte, würden ihn die Ichani in ihre Reihen aufnehmen. Wenn nicht, würden sie Jagd auf ihn machen.

Harikava öffnete eine mit Gold und Juwelen besetzte hölzerne Schachtel. Er nahm etwas Hartes heraus und warf es in die Luft. Dort blieb es hängen und begann, vor Tavakas Augen zu schmelzen. Harikava griff in seinen Gürtel und zog einen kunstvoll geschwungenen Dolch mit einem juwelenbesetzten Griff heraus. Sonea erkannte die Form. Die Klinge ähnelte der, die Akkarin vor so langer Zeit benutzt hatte, um Takan eine Wunde zuzufügen.

Als Nächstes ritzte Harikava sich die Haut seiner Hand auf und ließ Blut über den geschmolzenen Klumpen tropfen, der daraufhin rot wurde und sich verfestigte. Dann zog er einen seiner vielen goldenen Ringe vom Finger und legte ihn um das Juwel, bis davon nur noch ein winziges, rotes Leuchten zu sehen war. Sonea begriff jetzt, wozu dieses Juwel diente. Was immer in das Bewusstsein des Sklaven drang – jedes Bild, jedes Geräusch und jeder Gedanke -, sein Herr würde es auffangen.

Der Mann blickte zu Tavaka auf. Sonea spürte einen Widerhall der Furcht und der Hoffnung des Sklaven. Sein Herr winkte ihn heran und griff mit der blutenden Hand abermals nach seinem Messer.

An dieser Stelle endete die Erinnerung abrupt.

— Jetzt versuch du es, Sonea.

Einen Moment lang dachte sie darüber nach, mit welchem Bild sie den Mann aus der Reserve locken konnte. Einem Impuls gehorchend, sandte sie eine Erinnerung an Akkarin in schwarzen Roben aus.

Auf den Hass und die Angst, die den Geist des Mannes überfluteten, war sie nicht gefasst gewesen. Flüchtige Bilder eines magischen Kampfes folgten. Akkarin hatte Tavaka gefunden, bevor dieser genug Kraft hatte sammeln können. Harikava würde enttäuscht und wütend sein. Und nicht nur er, sondern auch Kariko. Das Bild von mehreren Männern und Frauen, die im Kreis um ein Feuer saßen, erschien: eine Erinnerung, die Tavaka vor ihr verbergen wollte. Er drängte sie mit dem Geschick eines Menschen beiseite, der viel Erfahrung darin hatte, Erinnerungen vor dem forschenden Geist eines anderen zu verbergen. Ihr wurde klar, dass sie vergessen hatte, an dem Anknüpfungspunkt der Erinnerung festzuhalten.

— Versuch es noch einmal. Du musst die Erinnerung einfangen und sie schützen.

Sie sandte Tavaka ein Bild der im Kreis sitzenden Fremden, so wie sie es im Gedächtnis behalten hatte. Die Gesichter waren falsch, dachte er. Im nächsten Moment tauchte das Gesicht Harikavas in seinen Gedanken auf. Sonea streckte ihren Willen aus, »fing« die Erinnerung auf und blockierte Tavakas Bemühungen, seine Gedanken vor ihr zu verbergen.

— So ist es richtig. Jetzt erkunde, was immer du willst.

Sie unterzog die Gesichter einer eingehenden Betrachtung.

— Wer sind diese Ichani?

Namen und Gesichter folgten, aber vor allem ein Gesicht und ein Name ragten unter den anderen hervor.

— Kariko. Der Mann, der Akkarin tot sehen will.

Warum?

— Akkarin hat seinen Bruder getötet. Jeder Sklave, der sich gegen seinen Herrn wendet, muss gejagt und bestraft werden.

Sie hätte um ein Haar die Kontrolle über Tavakas Erinnerung verloren. Akkarin war ein Sklave gewesen! Tavaka musste ihre Überraschung gespürt haben. Sie fing eine Woge wilder Häme auf.

— Wegen Akkarin und wegen Karikos Bruder, der ihn gefangen und seine Gedanken gelesen hat, wissen wir, dass die Gilde schwach ist. Kariko sagt, die Gilde verschmähe die größeren magischen Künste. Er sagt, dass wir Kyralia mühelos überfallen und die Gilde bezwingen können. Es wird eine schöne Rache für das sein, was die Gilde uns nach dem Krieg angetan hat.

Sonea gefror das Blut in den Adern. Diese Gruppe unvorstellbar starker Magier hatte die Absicht, Kyralia zu überfallen!

— Wann wird diese Invasion sein?, fragte Akkarin plötzlich.

Zweifel traten in das Bewusstsein des Mannes.

— Ich weiß es nicht. Andere fürchten die Gilde. Kein Sklave kehrt zurück. Ich werde es auch nicht tun… Ich will nicht sterben!

Mit einem Mal erschien ein kleines, weißes Haus, begleitet von schrecklichen Schuldgefühlen. Eine rundliche Frau – Tavakas Mutter. Ein drahtiger Vater mit ledriger Haut. Ein hübsches Mädchen mit großen Augen – seine Schwester. Der Leichnam seiner Schwester, nachdem Harikava gekommen war und …

Sonea brauchte ihre ganze Kraft, um dem Drang zu widerstehen, aus dem Geist des Mannes zu fliehen. Sie hatte während ihrer Jahre in den Hüttenvierteln die Folgen einiger grausamer Verbrechen mit angesehen. Tavakas Familie war seinetwegen gestorben. Seine Eltern hätten möglicherweise weitere begabte Kinder in die Welt gesetzt. Die Schwester hätte ebenfalls magische Kräfte entwickeln können. Der Ichani hatte nicht die ganze Familie mitnehmen wollen, ebenso wenig wie er potenzielle magische Quellen zurücklassen und riskieren wollte, dass seine Feinde sie fanden und benutzten.

Mitleid und Furcht kämpften in Sonea um die Oberhand. Tavaka hatte ein furchtbares Leben geführt. Aber sie spürte auch seinen Ehrgeiz. Wenn man ihm die Gelegenheit dazu gab, würde er in seine Heimat zurückkehren, um sich diesen monströsen Ichani zuzugesellen.

— Was hast du getan, seit du nach Imardin gekommen bist?, fragte Akkarin.

Erinnerungen an ein schäbiges Zimmer in einem Bolhaus folgten, dann der überfüllte Schankraum. Tavaka hatte an einem Platz gesessen, an dem er andere flüchtig berühren und nach magischem Potenzial suchen konnte. Es hatte keinen Sinn, ein Opfer zu verfolgen, solange es nicht über starke, verborgene Kräfte gebot. Wenn er vorsichtig zu Werke ging, konnte er stark genug werden, um Akkarin zu besiegen. Dann würde er nach Sachaka zurückkehren und Kariko helfen, die Ichani um sich zu scharen. Und dann würden sie Kyralia überfallen.