Aber alles hat sich geändert. Ich muss mir Zeit nehmen, um über mein neues Wissen nachzudenken, sagte sie sich. Bevor ich Akkarin wieder gegenübertrete, muss ich herausfinden, was all das zu bedeuten hat.
Sie schloss die Augen und beschwor ein wenig heilende Magie herauf, um die Erschöpfung zu vertreiben.
Was habe ich erfahren?
Die Gilde und mit ihr ganz Kyralia wurden von schwarzen Magiern aus Sachaka bedroht.
Warum hatte Akkarin mit niemandem darüber gesprochen? Wenn die Gilde wüsste, dass ihr eine mögliche Invasion bevorstand, könnte sie sich darauf vorbereiten. Wenn sie nichts von der Drohung erfuhr, konnte sie sich auch nicht verteidigen.
Aber wenn Akkarin den anderen davon erzählte, würde er eingestehen müssen, dass er schwarze Magie erlernt hatte. War der Grund für sein Schweigen so einfach und so egoistisch? Vielleicht gab es ja noch andere Gründe.
Sie wusste noch immer nicht, wie er gelernt hatte, schwarze Magie zu benutzen. Tavaka hatte geglaubt, dass einzig die Ichani über dieses Wissen verfügten. Ihn hatte man nur darin unterwiesen, damit er Akkarin töten konnte.
Und Akkarin war ein Sklave gewesen.
Es war unmöglich, sich den herablassenden, würdevollen, mächtigen Hohen Lord ausgerechnet als Sklaven vorzustellen.
Aber er war einer gewesen, so viel stand fest. Irgendwie war er entkommen und nach Kyralia zurückgekehrt. Man hatte ihn zum Hohen Lord gemacht. Jetzt versuchte er heimlich und ganz auf sich gestellt, diese Ichani in Schach zu halten, indem er ihre Spione tötete.
Er war nicht der Mensch, für den sie ihn gehalten hatte.
Möglicherweise war er sogar ein guter Mensch.
Sie runzelte die Stirn. Nicht so vorschnell. Irgendwie hat er schwarze Magie erlernt, und ich bin nach wie vor seine Geisel.
Doch wie hätte er diese Spione ohne schwarze Magie besiegen können? Und wenn es einen guten Grund gab, warum er all das geheim hielt, dann hatte er keine andere Wahl gehabt, als dafür zu sorgen, dass sie, Rothen und Lorlen Stillschweigen bewahrten.
»Sonea.«
Sie zuckte zusammen, dann wandte sie sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Akkarin stand, die Arme vor der Brust verschränkt, im Schatten eines hohen Baums. Sie stand hastig auf und verbeugte sich.
»Hoher Lord.«
Er musterte sie einen Moment lang, dann ließ er die Arme sinken und kam auf sie zu. Als er auf den Felsvorsprung trat, glitt sein Blick zu dem Felsen, an den sie sich gelehnt hatte. Er ging in die Hocke und unterzog die Oberfläche des Steins einer genauen Untersuchung. Sonea hörte das Scharren von Stein auf Stein und blinzelte überrascht, als ein Teil des Felsens sich nach vorn schob und ein ungleichmäßig geformtes Loch preisgab.
»Ah, es ist noch da«, sagte er leise. Er legte den Stein, den er herausgenommen hatte, auf den Boden, griff in die Öffnung und zog eine kleine, zerkratzte Holzkiste hervor. In den Deckel waren mehrere Löcher gebohrt worden, so dass sie ein Gittermuster ergaben. Der Deckel sprang auf. Akkarin neigte das Kästchen so, dass Sonea den Inhalt deutlich sehen konnte.
Darin lagen mehrere Spielsteine, die mit kleinen Stiften versehen waren, so dass man sie in die Löcher des Deckels stecken konnte.
»Lorlen und ich sind früher hierher gekommen, um uns vor Lord Margens Unterrichtsstunden zu drücken.« Er nahm einen der Steine heraus und betrachtete ihn.
Sonea blinzelte überrascht. »Lord Margen? Rothens Mentor?«
»Ja. Er war ein sehr strenger Lehrer. Wir haben ihn ›das Ungeheuer‹ genannt. In dem Jahr nach meinem Abschluss hat Rothen dann Margens Klassen übernommen.«
Sonea konnte sich Akkarin ebenso wenig als jungen Novizen vorstellen wie als Sklaven. Sie wusste, dass er nur wenige Jahre älter war als Dannyl, und doch wirkte Dannyl so viel jünger. Es lag nicht daran, dass Akkarin älter aussah, überlegte sie, es waren einfach seine Ausstrahlung und seine Position, die den Eindruck größerer Reife vermittelten.
Nachdem Akkarin die Spielsteine zurückgelegt hatte, verschloss er die kleine Kiste und legte sie wieder in ihr Versteck. Dann setzte er sich und lehnte sich mit dem Rücken an den Felsbrocken. Sonea verspürte ein eigenartiges Unbehagen. Mit einem Mal war der würdevolle, bedrohliche Hohe Lord verschwunden, der sie Rothens Schutz beraubt hatte, um dafür zu sorgen, dass seine Verbrechen unentdeckt blieben. Sie war sich nicht sicher, wie sie auf diese Lässigkeit reagieren sollte. Schließlich ließ sie sich einige Schritte entfernt auf den Boden sinken, während Akkarin immer noch die Quelle betrachtete, als wolle er sich davon überzeugen, dass sie noch genauso war, wie er sie in Erinnerung hatte.
»Ich war nicht viel älter als du, als ich die Gilde verließ«, sagte er. »Ich war zwanzig, und einem Hunger nach Herausforderung und Aufregung folgend, hatte ich die Disziplin der Krieger gewählt. Aber hier in der Gilde gab es keine Abenteuer zu bestehen. Ich musste diesem Leben für eine Weile entfliehen. Also beschloss ich, ein Buch über alte Magie zu schreiben – als Vorwand, um reisen und die Welt sehen zu können.«
Sie blickte überrascht zu ihm hinüber. In seine Augen war ein träumerischer Ausdruck getreten, als sähe er vor sich eine alte Erinnerung statt der Bäume, die die Quelle umgaben. Anscheinend war er in der Absicht hierher gekommen, ihr seine Geschichte zu erzählen.
»Im Laufe meiner Forschungen stieß ich auf einige seltsame Hinweise auf alte Magie, die mich fesselten. Diese Hinweise führten mich nach Sachaka.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn ich auf der Hauptstraße geblieben wäre, wäre ich vielleicht in Sicherheit gewesen. Auf der Suche nach exotischen Waren reisen durchaus hier und da kyralische Händler nach Sachaka. Der König schickt in Abständen von einigen Jahren Diplomaten in Begleitung von Magiern über die Grenze. Aber Sachaka ist ein großes Land und eins, das viele Geheimnisse birgt. Die Gilde ist sich darüber im Klaren, dass es dort Magier gibt, aber sie weiß nur wenig über sie.
Ich kam jedoch von Elyne nach Sachaka. Also direkt in die Ödländer, in die Wüste. Ich war einen Monat dort, bevor ich einem der Ichani begegnete. Ich sah Zelte und Tiere und kam auf die Idee, mich diesem wichtigen und wohlhabenden Reisenden vorzustellen. Er hieß mich durchaus freundlich willkommen und stellte sich mir mit Namen Dakova vor. Ich spürte, dass er ein Magier war, und war fasziniert. Er deutete auf meine Roben und fragte mich, ob ich ein Mitglied der Gilde sei, was ich bejahte.«
Akkarin hielt inne. »Da ich einer der stärksten Magier der Gilde war, dachte ich, ich müsse imstande sein, mich gegen alles zu verteidigen. Die Sachakaner, denen ich zuvor begegnet war, waren arme Bauern gewesen, die sich vor Besuchern fürchteten. Ich hätte das als Warnung begreifen sollen. Als Dakova mich angriff, war ich überrascht. Ich fragte ihn, ob ich ihn irgendwie gekränkt hätte, aber er gab mir keine Antwort. Seine Angriffe waren unglaublich stark, und ich hatte kaum Zeit zu begreifen, dass ich diesen Kampf verlieren würde, bevor ich auch schon am Ende meiner Kräfte war. Ich erklärte ihm, dass stärkere Magier nach mir suchen würden, wenn ich nicht in die Gilde zurückkehrte. Das muss ihn beunruhigt haben. Er hielt inne. Ich war so erschöpft, dass ich mich kaum auf den Beinen halten konnte, und ich dachte, das sei der Grund, warum es ihm gelang, so mühelos in meinen Geist einzudringen. Einige Tage lebte ich in dem Glauben, die Gilde verraten zu haben. Aber als ich später mit Dakovas Sklaven sprach, erfuhr ich, dass die Ichani in der Lage waren, jederzeit die Barrieren eines fremden Geistes zu überwinden.«
Als er einen Moment lang schwieg, hielt Sonea den Atem an. Würde er ihr erzählen, wie es gewesen war, ein Sklave zu sein? Sie verspürte eine Mischung aus Furcht und Erregung.