»Gibt es denn eine andere Möglichkeit?«
»Ich habe bisher noch keine gefunden.«
»Was werdet Ihr dann jetzt tun?«
»Weiter Jagd auf die Spione machen. Meine Verbündeten unter den Dieben erweisen sich in dieser Hinsicht als ausgesprochen nützlich. Sie sind bei weitem tüchtiger als die Männer, die ich zuvor mit der Suche nach den Spionen beauftragt hatte.«
»Die Diebe.« Sonea lächelte. »Das dachte ich mir. Wie lange arbeitet Ihr schon mit ihnen zusammen?«
»Seit ungefähr zwei Jahren.«
»Wie viel wissen sie?«
»Nur, dass sie wilde Magier jagen, die die unangenehme Angewohnheit haben, Menschen zu töten. Und natürlich wissen sie, dass diese Einzelgänger zufällig alle aus Sachaka kommen. Sie spüren sie auf, informieren mich und beseitigen die Leichen.«
Die Erinnerung an Tavaka, wie er um sein Leben gefleht hatte, blitzte in ihren Gedanken auf. Er hatte versprochen, niemandem mehr zu schaden, während er gleichzeitig fest entschlossen war, so viele Kyralier wie nur möglich zu töten, damit er nach Sachaka zurückkehren und sich den Ichani anschließen konnte. Wäre Akkarin nicht gewesen, würde Tavaka jetzt weiter morden.
Sie runzelte die Stirn. So viel hing von Akkarin ab. Was, wenn er starb? Wer würde die Spione dann aufhalten? Nur Takan und sie würden wissen, was wirklich vorging, aber keiner von ihnen verstand sich auf schwarze Magie. Keiner von ihnen konnte irgendetwas tun, um den Ichani Einhalt zu gebieten.
Als ihr die Konsequenzen dieser Tatsache bewusst wurden, erstarrte sie zu Eis.
»Warum habt Ihr mir das alles erzählt?«
Er lächelte grimmig. »Weil außer mir und Takan noch jemand Bescheid wissen sollte.«
»Aber warum ich?«
»Du weißt bereits sehr viel.«
Sie hielt inne. »Dann können wir Rothen ebenfalls ins Vertrauen ziehen? Ich weiß, dass er mit niemandem darüber sprechen würde, wenn er die Gefahr versteht.«
Akkarin runzelte die Stirn. »Nein. Es sei denn, wir müssten der Gilde all diese Dinge offen legen.«
»Aber Rothen glaubt immer noch, dass ich… was ist, wenn er versucht, etwas zu unternehmen? Meinetwegen.«
»Oh, ich behalte Rothen sehr genau im Auge.«
In der Ferne erklang ein Gong. Akkarin erhob sich. Der Saum seiner schwarzen Robe strich über Soneas Hand. Sonea blickte zu ihm auf und verspürte eine seltsame Mischung aus Angst und Respekt. Er hatte viele Male getötet. Er hatte die dunkelste Magie erlernt und benutzt. Dennoch hatte er all das nur getan, um der Sklaverei zu entkommen und um die Sicherheit der Gilde zu gewährleisten. Und niemand außer ihr und Takan wussten davon.
Akkarin verschränkte die Arme vor der Brust und lächelte. »Geh jetzt in deine Klasse zurück, Sonea. Mein Schützling schwänzt keinen Unterricht.«
Sonea senkte den Blick und nickte.
»Ja, Hoher Lord.«
8
Nachdenken über ein Verbrechen
Die Stimmen der Novizen hallten im Flur der Universität wider. Die beiden, die für Rothen die Kartons mit den Utensilien und Substanzen trugen, die er in der vergangenen Stunde benötigt hatte, führten mit leiser Stimme ein überaus faszinierendes Gespräch. Sie hatten bei den Pferderennen am letzten Freitag ein Mädchen entdeckt, das sie beobachtet hatte, und sie konnten nicht entscheiden, für welchen von ihnen es sich vielleicht interessierte.
Rothen hatte alle Mühe, sich ein Lächeln zu verkneifen. Aber als oben an der Treppe eine schlanke Gestalt in Sicht kam, verdüsterte sich seine Stimmung. Soneas Miene war angespannt vor Ärger. Mit einem Stapel schwerer Bücher in den Armen bog sie in einen Seitengang ein, der zur Novizenbibliothek führte.
Die Jungen hinter Rothen hatten aufgehört zu reden und schnalzten mitfühlend mit der Zunge.
»Ich schätze, das hat sie wohl herausgefordert«, sagte einer. »Ihren Mut muss man allerdings bewundern. Wenn er mein Mentor wäre, würde ich es nicht wagen, den Unterricht zu schwänzen.«
Rothen drehte sich um.
»Wer hat den Unterricht geschwänzt?«
Als der Junge begriff, dass Rothen seine Bemerkung gehört hatte, errötete er. »Sonea«, antwortete er.
»Der Hohe Lord hat ihr zur Strafe eine Woche Bibliotheksdienst auferlegt«, fügte der andere Junge hinzu.
Rothens Mundwinkel zuckten. »Das wird ihr sicher gefallen.«
»Oh nein. Er hat sie in die Bibliothek der Magier geschickt. Lord Jullen pflegt dafür zu sorgen, dass eine Strafe auch wirklich eine Strafe ist.«
Sonea hatte also tatsächlich den Unterricht geschwänzt, wie Tania es ihm berichtet hatte. Rothen fragte sich, warum sie das getan hatte und wo sie stattdessen hingegangen war. Sie hatte keine Freunde, mit denen sie sich davonschleichen konnte, und keine anderen Hobbys oder Interessen, die sie vielleicht in Versuchung geführt hätten, dem Unterricht fernzubleiben. Sie wusste, dass er und Lorlen sofort Verdacht schöpfen würden, wenn sie fehlte. Wenn sie das Risiko eingegangen war, sie zu beunruhigen, musste ihr Verhalten einen besseren Grund haben als nur eine rebellische Laune.
Je länger er darüber nachdachte, desto unruhiger wurde er. Als die Jungen ihr Gespräch wieder aufnahmen, lauschte er, in der Hoffnung, Näheres zu erfahren.
»Sie wird dir einen Korb geben. Seno hat sie auch schon abgewiesen.«
»Vielleicht hat sie Seno nur deshalb abgewiesen, weil sie ihn nicht mag.«
»Vielleicht. Aber es spielt ohnehin keine Rolle. Die Strafe gilt für eine Woche. Das dürfte den Freitag einschließen. Sie würde ohnehin nicht mit uns kommen können.«
Rothen widerstand dem Drang, sich umzudrehen und die beiden überrascht anzusehen. Sie sprachen immer noch von Sonea. Was bedeutete, dass sie und ein anderer Junge namens Seno erwogen hatten, Sonea zu den Rennen einzuladen. Seine Stimmung hob sich ein wenig. Er hatte gehofft, dass die anderen Novizen sie am Ende akzeptieren würden. Jetzt sah es so aus, als seien sie vielleicht sogar an mehr interessiert als nur an Freundschaft. Dann seufzte Rothen. Sonea hatte diesen Jungen namens Seno abgewiesen, und er wusste, dass sie wahrscheinlich auch alle anderen derartigen Angebote ablehnen würde. Es war eine grausame Ironie, dass sie jetzt, da die Novizen sie langsam akzeptierten, nicht wagte, sich mit einem von ihnen anzufreunden, aus Angst, die Situation mit Akkarin weiter zu komplizieren.
Als die Kutsche vor der Villa anhielt, tauschten Dannyl und Tayend einen zweifelnden Blick.
»Nervös?«, fragte Tayend.
»Nein«, versicherte ihm Dannyl.
Tayend schnaubte. »Lügner.«
Die Tür der Kutsche wurde geöffnet, und der Fahrer verneigte sich, während sie ausstiegen. Wie so viele elynische Villen stand die Vorderseite von Dem Maranes Haus den Elementen offen. Gewölbte Eingänge führten in einen gefliesten, mit Skulpturen und Pflanzen geschmückten Raum.
Dannyl und Tayend traten durch einen dieser Bogengänge und durchquerten die Halle. Eine große Holztür versperrte den Zutritt zu dem abgeschlossenen Teil des Hauses. Tayend zog an einem Seil, das neben der Tür hing. Irgendwo über ihnen erklang ein fernes Läuten.
Kurz darauf hörten sie gedämpfte Schritte im Haus, dann wurde die Tür geöffnet, und Dem Marane begrüßte sie mit einer Verbeugung.
»Botschafter Dannyl, Tayend von Tremmelin. Ihr seid herzlich willkommen in meinem Heim.«
»Wir fühlen uns geehrt von Eurer Einladung, Dem Marane«, erwiderte Dannyl.
Der Dem führte sie durch verschiedene luxuriös möblierte Räume, bis sie in einen offenen Saal gelangten. Durch hohe Bögen konnte man das Meer und die sorgfältig gepflegten Gärten sehen, die in Terrassen zum Strand hin abfielen. An der gegenüberliegenden Wand saßen sechs andere Männer auf gepolsterten Bänken, ihnen gegenüber mitten im Raum auf einem kleinen Sofa eine Frau.
Die Fremden starrten Dannyl an. Sie wirkten angespannt und ängstlich. Er wusste, dass seine Körpergröße in Verbindung mit der Robe ihn ehrfurchtgebietend erscheinen ließ.
»Darf ich euch den zweiten Botschafter der Gilde in Elyne vorstellen, Lord Dannyl«, erklärte Royend. »Seinen Begleiter, Tayend von Tremmelin, kennen einige von euch bereits.«