Dannyl kam in einen großen Raum mit steinernen Wänden. Es mochte früher einmal ein Keller gewesen sein, aber jetzt standen ein Bett und andere Möbel darin, obwohl die ganze Einrichtung so aussah, als sei sie verschiedentlich mit Feuer in Berührung gekommen. Ein Häufchen Holz an der einen Wand sah verdächtig nach den Überresten eines weiteren Möbelstücks aus. Auf dem Fußboden fanden sich Stücke einer großen Vase, die umgeben waren von einer stetig wachsenden Wasserlache. Dannyl vermutete, dass dies die Quelle des Lärms gewesen war, den er kurz zuvor vernommen hatte.
Ein Magier, der seine Kräfte nicht unter Kontrolle hatte, neigte dazu, als Reaktion auf starke Gefühle Magie freizulassen. Für Farand war die Furcht sein größter Feind: Furcht vor der Magie, über die er gebot, und Furcht vor der Gilde. Dannyl musste den Mann beruhigen, bevor er irgendetwas anderes tat.
Er gestattete sich ein schwaches Lächeln. Eine Situation wie diese war so selten, und doch erlebte er sie nun zum zweiten Mal binnen weniger Jahre. Rothen war es gelungen, Sonea trotz ihres tiefen Misstrauens gegenüber der Gilde die Kontrolle über ihre Kräfte zu lehren. Farands Unterweisung konnte nur einfacher werden. Und es würde Farand helfen zu wissen, dass ein anderer die gleiche Situation überlebt hatte.
»Soweit ich sehen kann, sind Eure Kräfte an die Oberfläche getreten, aber Ihr könnt sie nicht kontrollieren«, erklärte Dannyl. »Das ist zwar sehr selten, aber wir haben erst vor einigen Jahren ein Mädchen gefunden, dem es genauso erging wie Euch. Sie hat binnen weniger Wochen die Kontrolle über ihre Magie erlernt und ist jetzt Novizin. Verratet mir eins: Habt Ihr versucht, Eure Kräfte zu entwickeln, oder ist es von allein geschehen?«
Der Mann senkte den Blick. »Ich glaube, ich trage selbst die Verantwortung dafür.«
Dannyl setzte sich auf einen der Stühle. Je harmloser er wirkte, umso besser. »Darf ich fragen, wie Ihr das gemacht habt?«
Farand schluckte und sah in eine andere Richtung. »Ich bin schon immer in der Lage gewesen, die Gedankenrede anderer Magier zu hören. Ich habe jeden Tag gelauscht, in der Hoffnung, herauszufinden, wie man Magie benutzt. Vor einigen Monaten habe ich ein Gespräch mit angehört, in dem es um die Freisetzung von magischem Potenzial ging. Ich habe mehrmals ausprobiert, was diese beiden Magier gesagt haben, aber ich dachte nicht, dass es funktioniert hätte. Dann fing ich plötzlich an, Dinge zu tun, ohne es zu beabsichtigen.«
Dannyl nickte. »Ihr habt Eure Kräfte freigesetzt, aber Ihr wisst nicht, wie man sie kontrolliert. Die Gilde unterrichtet diese beiden Dinge gemeinsam. Ich brauche Euch nicht zu erklären, wie gefährlich es ist, über Magie zu gebieten, die man nicht kontrollieren kann. Ihr habt großes Glück, dass Royend einen Magier gefunden hat, der bereit ist, Euch zu unterrichten.«
»Ihr werdet mich unterrichten?«, flüsterte Farand.
Dannyl lächelte. »Ja.«
Farand lehnte sich erleichtert gegen das Bett. »Ich hatte solche Angst, dass sie mich in die Gilde würden schicken müssen und dass meinetwegen alle anderen in Gefahr gerieten.« Er richtete sich auf und straffte die Schultern. »Wann können wir anfangen?«
»Ich wüsste nicht, was dagegen spräche, sofort zu beginnen«, erwiderte Dannyl achselzuckend.
Abermals stahl sich ein ängstlicher Ausdruck in die Augen des Mannes. Er schluckte, dann nickte er. »Sagt mir, was ich tun muss.«
Dannyl erhob sich und sah sich um. Er deutete auf den Stuhl. »Setzt Euch.«
Farand betrachtete den Stuhl blinzelnd, dann befolgte er zögernd Dannyls Befehl. Dannyl verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete ihn nachdenklich. Er war sich der Wirkung bewusst, die ihre veränderte Position nach sich ziehen würde – während Farand anfangs ihn überragt hatte, verhielt es sich nunmehr umgekehrt. Nachdem Dannyl sich bereit erklärt hatte zu helfen, musste er Farand das Gefühl geben, dass er wusste, was er tat.
»Schließt die Augen«, befahl Dannyl. »Konzentriert Euch auf Euren Atem.« Mit leiser, gleichmäßiger Stimme führte er Farand durch die gewohnten Atemübungen. Als er glaubte, dass der andere Mann ein gewisses Maß an Ruhe erlangt hatte, trat er hinter den Stuhl und legte Farand sachte die Hände auf die Schläfen. Aber bevor er seine Gedanken aussenden konnte, zuckte Farand zurück.
»Ihr wollt meine Gedanken lesen!«, rief er.
»Nein«, versicherte ihm Dannyl. »Es ist nicht möglich, die Gedanken eines Menschen zu lesen, der damit nicht einverstanden ist. Aber ich muss Euch zu jenem Ort in Eurem Geist führen, an dem Ihr Zugang zu Euren Kräften habt. Das kann ich nur tun, wenn Ihr mich hineinlasst, um Euch den Weg zu zeigen.«
»Gibt es keine andere Möglichkeit?«, fragte der Dem.
Dannyl sah Royend an. »Nein.«
»Besteht auch nur die geringste Gefahr, dass Ihr Dinge sehen werdet«, fragte Farand, »die ich geheim halten muss?«
Dannyl musterte ihn ernst. Er konnte es nicht leugnen. Sobald er in Farands Geist vorgedrungen war, würden ihm die Geheimnisse des anderen Mannes wahrscheinlich entgegenspringen. Geheimnisse hatten die Neigung, genau das zu tun.
»Es ist möglich«, antwortete Dannyl. »Um ehrlich zu sein, wenn Ihr etwas unbedingt verborgen halten wollt, dann wird es an vorderster Stelle in Euren Gedanken stehen. Deshalb versucht die Gilde, Novizen so jung wie möglich auszubilden. Je jünger man ist, desto weniger Geheimnisse hat man.«
Farand vergrub das Gesicht in den Händen. »Nein«, stöhnte er. »Niemand kann mich unterrichten. Mein Leben wird für immer so bleiben.«
Die Decken auf dem Bett begannen zu qualmen. Der Dem sog scharf die Luft ein und trat einen Schritt vor. »Vielleicht kann Lord Dannyl schwören, für sich zu behalten, was immer er in deinen Gedanken liest«, schlug er vor.
Farand lachte verbittert auf. »Wie kann ich darauf vertrauen, dass er ein Versprechen halten wird, wenn er im Begriff steht, ein Gesetz zu brechen?«
»Das ist eine gute Frage«, erwiderte Dannyl trocken. »Ihr habt mein Versprechen, dass ich nichts weitergeben werde, was ich in Euren Gedanken entdecke. Wenn das für Euch nicht akzeptabel ist, schlage ich vor, dass Ihr Eure Angelegenheiten in Ordnung bringt und von hier fortgeht. Legt so viel Abstand wie nur möglich zwischen Euch und jeden Menschen, den Ihr nicht vernichten wollt, denn wenn Eure Kräfte vollends entfesselt werden, werden sie nicht nur Euch verzehren, sondern auch alles in Eurer Nähe.«
Der Mann erbleichte. »Dann gibt es also wirklich keine andere Wahl?«, fragte er mit gepresster Stimme. »Wenn ich das hier nicht tue, werde ich sterben. Ich muss mich also entscheiden zwischen dem Tod und…« Jäher Zorn blitzte in seinen Augen auf, dann holte er tief Luft und straffte sich. »Wenn das die einzige Möglichkeit ist, werde ich einfach darauf vertrauen, dass Ihr mich nicht verratet.«
Erheitert von dieser abrupten Meinungsänderung führte Dannyl Farand abermals durch die beruhigenden Atemübungen. Als er einige Zeit später die Finger auf die Schläfen des Mannes legte, hielt Farand still. Dannyl schloss die Augen und sandte seinen Geist aus.
Novizen werden normalerweise von ihren Lehrern in Kontrolle unterrichtet, und Dannyl war nie Lehrer gewesen. Er besaß zwar nicht Rothens Geschick, aber nach mehreren Versuchen gelang es ihm, Farand dazu zu bewegen, einen Raum zu visualisieren und ihn hineinzubitten. Reizvolle Andeutungen der Geheimnisse des Mannes erschienen, aber Dannyl konzentrierte sich darauf, Farand beizubringen, wie er sie hinter Türen verstecken konnte. Sie fanden die Tür, die zu seiner Kraft führte, verloren sie dann aber wieder, da die Dinge, die Farand zu verbergen trachtete, aus anderen Türen herausdrängen wollten.
— Wir beide wissen, dass ich diese Dinge ohnehin erfahren werde. Zeigt sie mir, dann können wir mit dem Kontrollunterricht fortfahren, schlug Dannyl vor.
Farand schien erleichtert zu sein, endlich jemandem davon erzählen zu können. Er zeigte Dannyl Erinnerungen, die ihn quälten: Auf der Schwelle zwischen Kindheit und Jugend hatte er irgendwann die Fähigkeit entwickelt, die Gedankenrede von Magiern belauschen zu können. Das war zwar ungewöhnlich, kam aber bei Menschen mit magischem Potenzial durchaus vor. Man prüfte Farand auf Magie und erklärte ihm, dass er sich um einen Platz in der Gilde bewerben könne, wenn er älter sei. In der Zwischenzeit erfuhr der elynische König von seiner Fähigkeit, Magier auf diese Weise zu belauschen, und Farand wurde an den Hof gerufen, wo er den König über die Dinge auf dem Laufenden hielt, die er mit angehört hatte.